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Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)

Titel: Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Holeman
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Er hat noch nie zugesehen, wie ein Mensch auf diese Art stirbt. Der Musiker würgt, ein Blubbern dringt aus seiner Kehle. Das Laken ist purpurrot. Grischa ist ebenfalls blutüberströmt.
    » Du bist gekommen « , hört er den Musiker keuchend sagen. » Du bist tatsächlich gekommen, Tima. «
    Grischa versucht zu sprechen. Aber er bringt keinen Ton heraus. Er versucht es erneut. » Ja, Kolja, ich bin gekommen, um dich zu holen. « Seine Stimme ist rau, er spricht zögernd, in abgehackten Worten.
    » Wie in meinen Träumen. Ich wusste, du würdest mich suchen. « Das Blubbern wird lauter. Walentin hustet einen Schwall Blut, und seine Lippen verziehen sich zu einer Art Lächeln.
    Nach langem Schweigen hebt Grischa den Kopf und sieht Lilja und Ljoscha an. » Er ist tot « , sagt er. Langsam macht er dreimal das Kreuzzeichen über dem Mann, den er noch immer im Arm hält. Seine Augen sind feucht.
    Ljoscha hat noch nie gesehen, wie sich Grischa bekreuzigt. Er sieht seine Schwester an, dann gleitet sein Blick zu Grischa zurück. » Hast du … hast du ihn so gut gekannt, Grischa? « , fragt Ljoscha, und seine Stimme klingt mit einem Mal, als hätte er eine schlimme Rachenentzündung. Seine Hände zittern heftig.
    » Nein « , sagt Grischa. » Ich kenne ihn überhaupt nicht, aber ich hätte ihn kennen können. «

SECHSUNDDREISSIG
    G rischa blickt auf seinen toten Bruder hinab, den er vor vielen Jahren auf der Landstraße außerhalb von Tschita im Stich ließ.
    Er ruft sich den einen Tag ins Gedächtnis, den er in Irkutsk verbrachte, erinnert sich daran, dass er absichtlich nur eine Nacht dort verweilt, um ja nicht Kolja zu begegnen. Er sieht wieder vor sich, wie er sich betrank und zum ersten Mal mit einer Frau schlief. Er denkt daran, dass er nur von dem einen Wunsch getrieben war, sein neues Leben ohne Verantwortung zu beginnen und nicht länger an einen kleinen Jungen gefesselt zu sein, der ihn zurückgehalten hätte.
    Wie leicht es ihm fiel, diesen Jungen zu verraten. Er hat ihn einmal verraten, und nun ist er auch noch für seinen Tod verantwortlich.
    » Lilja « , sagt Ljoscha leise. Noch immer bekreuzigt sie sich und wispert ihre gebetsartigen Beschwörungen. Sie faltet die Hände und hebt sie in die Höhe. Ljoscha würde sie am liebsten anschreien, sie schlagen, aber es ist alles so beängstigend, so verwirrend. In Grischas Haus ist es totenstill, während Grischa noch immer den leblosen Musiker in den Armen hält und ihn mit unendlich gequältem Ausdruck ansieht. » Was ist passiert? Warum hast du das getan? « Lilja antwortet nicht. Ljoscha sieht abermals Grischa an. » Warum hat Lilja so etwas Schreckliches gemacht? «
    » Ich muss in die Kirche. Ich muss um Vergebung bitten. « Zum ersten Mal spricht Lilja mit lauter Stimme. » Ich … ich wollte nicht … Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist. Ich dachte nicht mal, dass sie geladen ist. Wie sollte ich das wissen? Warum hast du sie nicht entladen, Ljoscha? Ich wollte ihn doch nicht umbringen. Ich wollte ihn nur verscheuchen. Ihm klarmachen, damit er sich nie wieder hier blicken lassen soll. Ich muss um Vergebung bitten. Glaubst du, Gott wird mir vergeben, Ljoscha? « Sie weint jetzt.
    Grischa legt Walentins toten Körper behutsam auf den Boden. » Ljoscha, bring Lilja ins Dienstbotenquartier. Dann kommst du zurück und hilfst mir. «
    Ljoscha ist blass. » Dir helfen? Aber was ist mit Lilja? Wird sie ins Gefängnis müssen? Ich hätte die Patrone nicht im Gewehr lassen dürfen. Das mache ich sonst nie. Ich … ich war so müde. Ich bin von der Jagd zurückgekommen und … «
    » Ich gehe nicht ins Gefängnis. « Liljas Stimme ist mit einem Mal laut und fest. Sie wendet den Blick von Walentins sterblicher Hülle ab und sieht Grischa trotzig an. » Manchmal passieren einem schlimme Dinge. Aber deswegen muss man ja noch lange nicht schlecht sein. «
    Grischa starrt sie ungläubig an.
    » Ich wollte ihm doch nur einen Schrecken einjagen, damit er ein für alle Mal verschwindet. Aber … aber jetzt … « Liljas Stimme klingt jetzt nicht mehr so fest, und sie beginnt wieder zu weinen. Um sich sogleich wieder zu fangen. » Und behaupte bloß nicht, du wärst nicht froh « , sagt sie zu Grischa. » Ich habe dir einen Gefallen erwiesen, oder nicht? «
    Grischa wünscht, Lilja wäre endlich still. Er bemüht sich, Ruhe zu bewahren, vernünftig zu denken, aber es gelingt ihm nicht. Er will jetzt allein mit seinem toten Bruder sein.
    » Wir begraben ihn im Wald « ,

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