Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Namen Antonina bringt er nicht über die Lippen. » Tut mir leid. Ich war gestern so beschäftigt, dass ich den Brief ganz vergessen hatte. «
Das ist glatt gelogen. Er hatte nicht vor, ihr den Brief zu geben. Er wollte ihr nicht gegenübertreten. Er ist die ewige Lügerei wegen Michail satt, und er ist es leid, seine Gefühle vor ihr zu verbergen.
» Darf ich hereinkommen? « , fragt sie.
» Natürlich, bitte. Kommen Sie. «
Die Vorhänge in dem kleinen Wohnzimmer sind zurückgezogen und lassen das schummrige Tageslicht hereinsickern. Die im Kamin knisternden Tannenholzscheite verströmen einen würzigen Duft. Das mit einem weichen braunen Wollstoff überzogene Sofa ist vor den Kamin gerückt. Ein paar im Zimmer verteilte Lampen tauchen es in ein warmes Licht, und die vielen Bücher tun ein Übriges, um die behagliche Atmosphäre eines gemütlichen Heims zu unterstreichen.
» Der Brief … « , sagt Grischa und blickt sich suchend um. » Wo habe ich ihn hingelegt? «
Antonina nimmt ein Buch in die Hand, das mit den aufgeschlagenen Seiten nach unten auf dem Sofa liegt. » Guiraud: ›Les Deux Princes‹. Du kannst Französisch? «
» Mein Vater hat es mir beigebracht. «
» Wie kommt es, dass dein Vater Französisch sprach? «
Grischa hat nicht vor, ihr ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt von seiner Vergangenheit zu erzählen. Ein ganz anderer Gedanke bemächtigt sich seiner: Wenn sie ihm jetzt so nahe kommt, dass er den Geruch von Kropotkin an ihr wahrnimmt … und mit einem Mal packt ihn die nackte Wut. Sie ist wie eine läufige Hündin, die überall ihre Duftnote hinterlassen muss und jeden Rüden in der näheren Umgebung in den Wahnsinn treibt. Er kann sich nur mit Mühe beherrschen und sagt, anstatt ihre Frage zu beantworten: » Dieses Buch hatte ich schon, als ich fast noch ein Junge war. Ich habe es nach Angelkow mitgebracht. «
Sie liest laut den Namen, der auf dem Vorsatzblatt steht. » Timofei Aleksandrowitsch Kasakow. « Das ist Grischas Handschrift. Timofei. Tima – so sollte sie ihn nennen, in der Nacht, die sie gemeinsam in der Datscha verbrachten. Nenn mich Tima, flüsterte er.
Sie schaut von dem Buch auf. » Tima « , sagt sie, und er liest in ihren Augen, was sie denkt.
Er zittert, etwas, was Grischa völlig fremd ist. Er will zu ihr gehen, sie an sich drücken, und dieser Wunsch ist so stark, dass er kaum Luft bekommt.
» So hast du früher geheißen? «
Ein Kampf tobt in seinem Innern. Er weiß, was sie mit Kropotkin getan hat; Lilja hat ihm gesagt, was sie in der vergangenen Nacht mit diesem Musiker getrieben hat. Gleichzeitig wird Grischa klar, dass es keine Zukunft für sie geben wird, dass es zu nichts führen wird. Er möchte so gern etwas Bedeutendes sagen, etwas, um ihr begreiflich zu machen, dass sie mit ihm zusammen sein sollte und nicht mit Kropotkin.
Stattdessen sagt er: » Ja, das ist mein Taufname. «
» Und du hast ihn in Grigori Sergejewitsch Naryschkin geändert. «
» Ja « , sagt er mit fester Stimme.
Sie zögert noch einen Moment und legt dann das Buch auf das Sofa zurück. Obwohl Grischa kurz angebunden ist, scheint sie noch nicht gehen zu wollen. Sie nimmt die swirel, legt, genau wie Walentin es getan hat, die Finger auf die sechs Löcher und betrachtet den Namen – Tima –, der seitlich ins Holz geritzt ist. » Du spielst Flöte? «
» Nein. Ich habe sie geschenkt bekommen. « Ihre Fragen sind wie Stiche in den Bauch. Weiß sie denn nicht, was sie ihm antut, indem sie mit ihm redet, als wäre nichts gewesen? Als wäre alles wie zuvor? Aber nichts ist mehr, wie es war. Will sie ihn bestrafen?
Sie legt die Flöte an ihren Platz zurück. » Weißt du was? Kropotkin hat mir etwas Merkwürdiges erzählt. Er sagt, wenn er Musik hört, sieht er Farben . W enn zum Beispiel ein Cello spielt, sieht er die Farbe Rot. Klaviermusik ist Grün, die Töne der Piccoloflöte sind Gelb … Der Klang jedes Instruments hat für ihn eine andere Farbe. Als er mir das erzählte, musste ich an Mischa denken. Mischa hat so mühelos Klavierspielen gelernt wie das Aufsagen des Alphabets oder das Zählen. «
Die Erinnerung, wie Mischa anfing Klavier zu spielen, lässt sie lächeln. » Manchmal dachte ich … « Ihr Lächeln erstirbt, und sie sieht Grischa an. » Was hast du? «
Er umklammert so fest den Kaminsims, dass seine Fingerknöchel weiß hervortreten; mit einem Mal ist er ganz blass.
» Bist du krank? «
» Nein, es geht mir gut. «
» Hast du je davon gehört? Dass Musik
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