Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
weinte, aber sie meinte, dass sie nicht traurig ist. Sie sagte, manchmal weinen Menschen auch, weil sie sehr, sehr glücklich sind. Aber wahrscheinlich machen das nur Mädchen. Ich habe noch nie weinen wollen, wenn ich glücklich war.
In meinem Kopf höre ich immerzu Musik, und wenn ich mich ans Klavier setze, kann ich sie spielen. Es ist ganz einfach, und Mama freut sich so. Am schönsten finde ich es, wenn ich nach dem Abendessen mit Lilja im Kinderzimmer in den Musiksalon hinunter darf, um Mama und Papa etwas vorzuspielen. Und wenn sie dann zusammen lächeln, was sonst nie geschieht.
Papa lächelt, wenn er auf der Veranda steht und seine Felder betrachtet, oder wenn er mich auf das größte Pferd setzt und ich die Zügel ganz straff nehme und so tue, als hätte ich keine Angst. Manchmal lächelt er auch, wenn er mit Grischa am Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer über irgendwelchen Papieren sitzt und Grischa ihm etwas erklärt.
Mama lächelt öfter als Papa. Egal was ich sage oder tue, immer lächelt sie. Und selbst wenn sie mit Lilja oder den anderen Dienstboten spricht, lächelt sie.
Manchmal, vor allem wenn es den ganzen Tag geregnet hat, wenn ich zu Mama gehe und sie vor dem Schlafengehen küsse und umarme und je t’aime zu ihr sage, hat sie feuchte Augen, auch wenn sie lächelt. Als ich sie einmal gefragt habe, warum ihre Augen feucht sind, hat sie gesagt, sie hat zu lange in den Regen geblickt. Das war letztes Jahr, und ich habe ihr geglaubt, weil ich noch nicht so alt war wie heute. Aber jetzt weiß ich, dass das nicht sein kann. Wahrscheinlich hat sie geweint, weil sie sehr, sehr glücklich war.
23. März
Ich hoffe, ich bekomme zu meinem Geburtstag oder Namenstag einen Hund. Ich hatte einen Schoßhund, eine bolonka wie Tinka, aber er ist krank geworden und gestorben. Das war kurz vor Weihnachten. Es war sehr traurig, und Mama sagte, sobald es Frühling und wärmer wird, bekomme ich einen neuen. Diesmal möchte ich einen größeren Hund haben. Einen richtigen Jungenhund, und ich werde ihn Dani nennen.
6. April
Wovor ich am meisten Angst habe:
Soldat zu werden.
Vor dem Geräusch, das der Wind manchmal in meinem Kamin macht.
Vor Papa, wenn er die Lippen zusammenpresst.
Wenn die Hunde im Hof nachts nicht zu bellen aufhören.
Dass Mama etwas Schlimmes zustößt, wenn ich nicht bei ihr bin.
Das war der letzte Eintrag.
Als Antonina keine Tränen mehr hatte, nahm sie das Buch und ging in ihr Schlafzimmer zurück.
Während sie jetzt im Halbdunkel auf ihrem Bett liegt, streichelt sie zärtlich über den weichen Einband und denkt an ihren Sohn, der sich einen Hund namens Dani wünscht.
» Tinka? « , ruft sie. Sie hört, wie das Hündchen mit den kurzen Krallen am herabhängenden Saum ihrer Bettdecke kratzt. Mir ihren zwölf Jahren ist Tinka nicht mehr in der Lage, aufs Bett zu hüpfen. Lilja hebt den kleinen creme- und karamellfarbenen Malteser hoch und setzt ihn neben Antonina. Der Hund leckt Antoninas Hand und tappt dann zum Fußende des Bettes und dreht sich viermal im Kreis, ehe er sich hinlegt.
Während sich Lilja in dem schummrigen Zimmer zu schaffen macht, Kleider aufräumt und die Flakons auf dem Frisiertisch ordnet, liegt Antonina still in ihrem Bett. Sie wird nirgendwo gebraucht, es gibt nichts für sie zu tun. Sie kann einfach nur warten. Und dieses Warten kostet sie unendlich viel Energie; sie ist immerzu müde. Sie weiß, dass die Männer immer wieder denselben Pfaden folgen, immer wieder durch dieselben Dörfer reiten. Inzwischen fragt sie nicht mehr, ob sie mitkommen kann; sie hat nicht mehr die Kraft dazu.
Vom Flur sind gedämpfte Stimmen und Schritte zu hören. Eine Männerstimme ruft leise durch die Tür: » Gräfin Mitlowskaja? « Vielleicht ist es einer der beiden Ärzte oder der Priester.
Lilja geht zur Tür, öffnet sie und spricht mit jemandem, dann schließt sie sie und kommt zu ihr ans Bett. » Nichts Wichtiges « , sagt sie und schaut auf Antonina hinab. » Du musst jetzt versuchen, Ruhe zu finden, süße Tosja. « Sie schiebt Antoninas Haare aus der Stirn und beugt sich dann über sie, um ihr einen Kuss darauf zu hauchen. Sie lässt ihre Lippen ein paar Augenblicke auf ihrer warmen Haut verweilen, und bei dieser Berührung atmet Antonina bebend ein.
» Aber wie soll ich Ruhe finden, Lilja? Wie soll ich je wieder Ruhe finden? « , sagt sie kaum hörbar. » Ich habe schreckliche Angst. «
Lilja legt sich neben Antonina und schlingt den Arm um sie. Antonina birgt ihr
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