Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
nur ein bisschen zu groß, und manchmal kommen vom Kamin so komische Geräusche. Letztes Jahr hab ich Lilja gesagt, ich bin jetzt alt genug und sie muss nicht mehr auf der Liege am Fußende von meinem Bett schlafen. Aber manchmal wünsche ich mir nachts, dass sie wieder da ist, so wie früher. Als ich noch sehr klein war und schlimme Träume hatte, hat sie mich zu Mamas Bett getragen, und ich durfte bei ihr schlafen. Aber wenn Papa am Morgen dann hereinkam und mich sah, war er böse auf Mama und sagte zu ihr, ich bin jetzt kein Baby mehr und muss in meinem eigenen Bett schlafen. Papa nennt mich » kleiner Soldat « und sagt, das Soldaten nicht bei ihren Müttern im Bett schlafen und auch nicht weinen.
Ich versuche, nicht zu weinen, weil ich weiß, dass sich Papa dann ärgert. Aber ein Soldat will ich auch nicht sein. Mama hat mir erzählt, ihr Bruder Wiktor Leonidowitsch war auch Soldat und ist gestorben. Ich will nicht wie Onkel Wiktor sterben.
Als ich noch ein ganz kleiner Junge war und Papa in die Stadt fuhr, habe ich immer bei Mama und Tinka geschlafen. Manchmal ist auch Lilja bei uns geblieben, sie hat dann auf Mamas Liege geschlafen, und wenn ich morgens aufgewacht bin und gesehen habe, wie Mama und Lilja plauderten und lachten, war ich glücklich. Mama nennt mich nie Soldat. Sie nennt mich petite souris.
14. März
Ich habe fünf Freunde: Andrej Jakowitsch und Stepan Jakowitsch (sie sind Brüder) und Oksana Aleksandrowna und Julijana Filipowna. Und dann ist da noch Iwan Abramowitsch. Ihn mag ich nicht so sehr wie die anderen, weil er manchmal gemein ist, aber er ist auf einem Auge blind, und Mama sagt, dass ihn das traurig macht und er deswegen gemein ist, und ich soll trotzdem nett zu ihm sein. Meine Freunde wohnen auf anderen Gütern, und wir treffen uns nur manchmal zum Spielen.
Zu Hause spiele ich gern mit Ljoscha. Er ist viel älter als ich, aber er ist nett. Er ist Liljas Bruder. Er zeigt mir, wie man verschiedene Knoten in ein Seil macht, und erzählt mir Geschichten über Pferde. Er arbeitet zusammen mit Fjodor in den Stallungen, und manchmal, wenn ich mit dem Üben fertig bin und meine Hausaufgaben gemacht habe, erlaubt Mama ihm, dass er mich zu den Ställen mitnimmt. Ljoscha hat mir gezeigt, wie ich es machen muss, wenn ich Dunja eine Karotte gebe – ich soll die Karotte auf die flache Hand legen und sie ihr hinhalten. Dunjas Lippen sind ganz weich und ein bisschen stoppelig und kitzeln meine Hand.
Ich muss mich immer daran erinnern, dass ich mit Ljoscha nicht Französisch reden soll. Mama hat gesagt, das ist nicht höflich, weil die Bediensteten kein Französisch sprechen, und wenn wir es vor ihnen tun, könnten sie sich vielleicht ausgeschlossen fühlen. Wenn wir allein sind, ist es in Ordnung, sagt Mama. Aber Papa spricht Französisch, wenn Bedienstete dabei sind.
Einmal, als ich mit Mama und Papa bei Prinz Usolozew war, sind seine Jungen weggelaufen und haben sich vor mir versteckt, sie wollten nicht mit mir spielen. Da ist Mama zu mir gekommen und hat mich in die Arme genommen und gesagt, es tut ihr leid, dass sie mich ausgeschlossen haben. Sie sagte, sie weiß, wie traurig einen das macht, weil sie sich auch manchmal ausgeschlossen fühlt. Ich weiß nicht, von wem sie sich ausgeschlossen fühlt. Und weil ich nicht will, das Ljoscha so traurig wird, wie ich und Mama es waren, spreche ich nie Französisch vor ihm.
22. März
Die zwei Dinge, die ich am liebsten tue:
1. Alles, was ich mit Ljoscha mache.
2. Klavier spielen, aber nicht mit Monsieur Lermontow. Wenn ich allein oder mit Mama spiele, fühle ich mich in mir drin sehr ruhig. Selbst wenn es in einem Stück heißt, man muss Fortissimo spielen, und ich muss meine Finger fest auf die Tasten drücken, fühle ich mich ruhig. Genauso fühle ich mich auch, wenn Mama mich an sich drückt, oder hab ich mich gefühlt, wenn Lilja, als ich noch klein war, mir ein Schlaflied vorsang.
Ich habe schon immer Klavier gespielt. Mama hat mir erzählt, als ich ein kleines Baby war, hielt sie mich auf dem Schoß, während sie spielte. Sie meint, ich muss schon bevor ich geboren wurde und noch ein Engel war, Musik gehört haben, und deswegen kann ich jetzt so spielen, wie ich spiele. Ich kann mich nicht erinnern, ein Engel gewesen zu sein, aber ich erinnere mich, wie ich noch ganz klein war und auf Mamas Schoß vor dem Klavier saß und Mama meine Finger auf die Klaviatur setzte. Ich erinnere mich auch, wie wir unser erstes Duett zusammen spielten. Mama
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