Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
einer Weihnachtsfeier auf einem benachbarten Gut geschenkt bekommen. Freudig war er damit zu Antonina gelaufen und hatte es ihr gezeigt, ihr gesagt, er wolle das Buch benutzen, um auf dem starken cremefarbenen Papier seine Gedanken festzuhalten. Sie erwiderte, sie selbst führe von jeher Tagebuch und dass es etwas Wunderbares sei, seine Gedanken und Fragen aufzuschreiben.
Eine Woche später saß Michail ihr gegenüber am Frühstückstisch und schrieb in das Buch, während sie las und Tee trank.
Dann kam Konstantin herein und fragte: » Machst du Hausaufgaben, Michail? «
» Nein. Ich schreibe meine Gedanken in mein Tagebuch, Papa. «
Konstantin schlug mit der Hand auf den Tisch, sodass Tee aus Antoninas Tasse in die Untertasse schwappte. » Ein Mann verschwendet seine Zeit nicht mit solchen Dingen, Michail. Das ist ein Zeitvertreib für Frauen. Leg es weg. «
Ganz langsam legte Michail den Federhalter auf den Tisch.
» Mach dieses Buch zu, habe ich gesagt. «
» Ich warte nur, bis die Tinte getrocknet ist. «
» Lass dich nie wieder mit dem Buch erwischen « , sagte Konstantin barsch, dann ging er ohne zu frühstücken hinaus.
Kaum war die Haustür krachend ins Schloss gefallen, ergriff Michail erneut den Federhalter und tauchte ihn in die Tinte.
Antonina trank ihren Tee und sah ihm versonnen zu.
Sie schlug das ledergebundene Tagebuch auf und atmete tief ein.
Seine Handschrift. Seine Worte. Seine Gedanken. Sie schloss es wieder und legte die Hand auf die Augen. Nach einer Weile stand sie wieder auf, ließ das Tagebuch auf dem Schreibtisch liegen und ging in ihr Zimmer, das von Michails nur durch einen großen begehbaren Wäscheschrank getrennt ist. Sie nahm die Wodkaflasche aus ihrem Kleiderschrank und ein Glas von ihrem Waschtisch und ging damit in sein Zimmer zurück.
Sie füllte das Glas, nahm einen Schluck und noch einen, dann las sie den ersten Eintrag, der auf den 8. Januar 1861 datierte.
Meine Freundin Oksana Aleksandrowna hat mir dieses Buch zu Weihnachten geschenkt. Mama hat gesagt, dass ich darin meine Gedanken niederschreiben soll.
Sie hat gesagt, ich soll mich nicht genieren und über alles schreiben, was mich glücklich macht, aber auch über Dinge, die ich nicht mag. Sie hat gesagt, dass es mein ganz persönliches Buch ist und dass niemand sonst es lesen soll.
Antonina unterbrach ihre Lektüre und nippte erneut an ihrem Glas. Mit der Fingerspitze zeichnete sie die unregelmäßigen von Tintenflecken gesäumten Zeilen nach.
Mama hat mir gesagt, dass es eine gute Übung für mich ist, auf Französisch zu schreiben, aber ich mag es nicht. Ich habe Angst, dass ich zu viele Fehler mache. Monsieur Thibault rügt mich jeden Tag deswegen.
Ich mache nicht gern Hausaufgaben für ihn. Ich bekleckse immer meine Finger und die Seiten mit Tinte, und dann schüttelt er den Kopf und sieht traurig aus. Und wenn ich Unterricht bei Monsieur Lermontow habe und ihm vorspiele, was ich geübt habe, macht er laute, verärgerte Geräusche mit der Zunge. Er sagt, so wie ich die Hände über den Tasten halte, würde es nicht aussehen, als wäre ich ein gewissenhafter Junge.
Von heute an will ich etwas gewissenhafter sein.
Antonina leerte ihr Glas und schenkte sich noch eines ein. Seit dem Tag, da Michail verschwunden ist, hat sie die Hauslehrer nicht mehr gesehen. Ob sie noch in ihren Zimmern im Dienstbotenquartier wohnen und auf Michails Rückkehr warten? Warten, dass man sie wieder ins Gutshaus bestellt, um erneut ihren Dienst anzutreten?
Einige Seiten sind aus dem Tagebuch gerissen worden. Der nächste Eintrag datiert drei Tage später.
Ich habe viel geübt, aber ich spiele immer noch nicht sorgfältiger. Monsieur Lermontow wird sich über mich ärgern, wenn er heute kommt. Immer wenn er sich ärgert, bekomme ich ein komisches Gefühl im Bauch, so wie wenn ich zu viele von Raisas Mohnbrötchen esse, und dann spiele ich nicht gut. Manchmal, wenn ich nicht gut geübt habe, erzählt Monsieur Lermontow es Papa, und wenn ich weiß, das Papa unzufrieden mit mir ist, bekomme ich ein noch komischeres Gefühl im Bauch.
Aber wenn Papa nicht da ist und sich Monsieur Lermontow bei Mama beklagt, nickt sie nur, und wenn er nicht schaut, schneidet sie lustige Grimassen. Mama ist nie böse mit mir.
Antonina fischte ihr Taschentuch aus dem Ärmel und hielt es sich eine ganze Weile an die Augen. Dann nahm sie wieder einen Schluck und las weiter. Der nächste Eintrag stammte von Ende Februar.
Ich mag mein Zimmer, es ist
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