Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
hatte das Mädchen Antonina noch nicht bemerkt. Erst als diese absaß, ein paar Schritte auf die Lichtung zumachte und ein trockener Ast unter ihrem Fuß knackte, hob das Mädchen ruckartig den Kopf.
» Was ist das? « , fragte Antonina und blieb zwischen den schlanken, kahlen Birken stehen. » Was begräbst du da? «
Das Mädchen rappelte sich rasch hoch und wischte die Hände an ihrer Schürze ab. Antonina sah, dass sie rau und gerötet waren, die abgebrochenen Nägel hatten Trauerränder. Unwillkürlich machte das Mädchen eine tiefe Verbeugung aus der Hüfte.
» Richte dich wieder auf « , sagte Antonina, und das Mädchen tat, wie ihm geheißen.
Auch wenn das Mädchen nicht wagte, der Prinzessin ins Gesicht zu sehen, so konnte es doch nicht anders, als neugierig deren merkwürdige Kleidung zu betrachten. Prinzessin Olonowa, die Tochter des Mannes, dem sie und ihre Mutter und ihr Vater und Ljoscha und ihre Hütte und das Dorf und das Land, das sie bearbeiteten, gehörten, war wie ein Junge angezogen; sie trug eine Hose und einen Kittel mit Gürtel sowie Stiefel und eine kurz geschnittene Jacke. Zwar war die Hose aus kostbarem braunen Samt, und der feine weiße Leinenkittel hatte vorn eine aufwendig gestickte Zierborte; der Gürtel und die Stiefel waren aus weichem, geschmeidigem Leder, die Jacke aus fester grüner Wolle. Aber trotzdem war das ganz und gar nicht der typische Aufzug einer Prinzessin. Ihre blonden Zöpfe waren im Auflösen begriffen, und das Haar – sie trug keine Kopfbedeckung – klebte ihr an der schweißbedeckten Stirn. Sie hatte große grüne Augen und einen breiten Mund, nur ihre Nase war vielleicht einen Tick zu lang. Sie wirkte ein wenig ärgerlich. Flüchtig dachte das Dorfmädchen, dass es in seinem knöchellangen Rock und der bestickten Bluse mit der Schürze und dem Kopftuch ordentlicher aussah als die Prinzessin. Lautlos bat es Gott um Vergebung für diesen eitlen Gedanken und nahm sich vor, diese Sünde abends in der Kirche zu beichten.
» Ich habe dich gefragt, was du da in der Erde verscharrt hast. «
Schließlich wagte das Mädchen es doch, der Prinzessin ins Gesicht zu schauen, aber nur für einen Augenblick. » Romka. Meinen Welpen. «
Antonina trat an den Rand des kleinen Grabs. » Woran ist er gestorben? «
» Er hat in der Schmiede meines Vaters Rattengift gefressen « , erwiderte das Mädchen. Die Kleine hob den Kopf, hielt die Augen jedoch weiterhin gesenkt. » Ich hab nicht gewusst, dass mein Vater Rattengift ausgelegt hat. « Sie sog bebend die Luft ein. » Der arme Romka. Er hat zum Schluss furchtbar geschrien. « Sie wischte sich mit den Zipfeln ihrer Zöpfe die Tränen aus den Augen.
Antonina ging neben dem Grab in die Hocke und klopfte mit der flachen Hand auf die aufgehäufte Erde. » Sollen wir ein Gebet sprechen? « Sie sah zu dem Mädchen hoch, das unbeweglich dastand. » Was meinst du? «
Das Mädchen nickte und blinzelte.
» Wie heißt du? « , fragte Antonina.
» Newskaja, Lilja Petrowna. «
» Und wer ich bin, weißt du ja « , sagte Antonina und richtete sich wieder auf.
Das Mädchen verschränkte die Hände vor der Brust und verbeugte sich tief aus der Hüfte heraus. » Natürlich weiß ich, wer Sie sind, Prinzessin Olonowa « , sagte es und sah dann leicht zögernd wieder zu ihr hinauf. Lilja Petrowna war ein wenig kleiner als Antonina, hatte kastanienbraunes Haar und goldbraune Augen. Die Frühlingssonne und der Wind hatten ihre Haut bereits gebräunt.
Antonina mochte ihre Augenfarbe.
» Ich habe Sie gesehen, als Sie durch Kaschra geritten sind « , sagte das Mädchen, als hätte die Prinzessin auf eine Erklärung gewartet. » Ich wohne dort. «
» Ach so. « Antonina musterte es. » Wie alt bist du? «
» Dreizehn. Genau drei Monate älter als Sie « , sagte es. » Auf den Tag genau. «
» Woher kennst du meinen Geburtstag? «
Lilja lächelte unsicher. Ihre Augen schimmerten noch immer feucht. » Jeder kennt den Geburtstag des Prinzen und der Prinzessin und ihrer Kinder « , sagte sie. » An den Geburtstagen und Namenstagen bekommt jede Familie im Dorf zur Feier des Tages eine Flasche Wodka. «
» So? Das wusste ich gar nicht. « Wieder musterte Antonina Lilja. » Dann sind wir also gleich alt. Hast du viele Freunde im Dorf? «
» Oh ja, Prinzessin. «
» Was machst du mit ihnen? «
» Machen? « , fragte Lilja, die immer mehr Zutrauen fasste. Noch nie war sie dem Grundbesitzer oder dessen Familienmitgliedern persönlich begegnet,
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