Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Gesicht an Liljas Schulter.
» Ich werde dir helfen « , sagt Lilja. » Ich werde immer bei dir bleiben. « Ihre Stimme, die sie zu einem Flüstern gesenkt hat, klingt zuversichtlich.
Nach einer Weile wird Antoninas Atem gleichmäßig, beruhigt sich. Das Laudanum entfaltet, zusammen mit dem Wein und dem Wodka, den sie in Mischas Zimmer getrunken hat, seine Wirkung. Lilja schiebt den Kopf ein wenig zurück, um Antoninas Gesicht zu betrachten. Sie berührt ihre Wange, dann beugt sie sich vor und küsst sie ganz zart, um sie ja nicht aufzuwecken, auf den Mund und schmeckt das Laudanum auf ihren Lippen.
ACHT
A ls Lilja Antonina zum ersten Mal küsste, waren sie dreizehn Jahre alt, und sie war eine Leibeigene auf dem Gut von Antoninas Vater.
Antonina war die Tochter von Prinz Leonid Stepanowitsch Olonow und Prinzessin Galina Maximowna Olonowa. Obgleich es in vielen Fällen kaum möglich war, die weit zurückreichenden Abstammungslinien zum Zarenhaus zurückzuverfolgen, auf die sich viele Adlige beriefen, war die Stellung des russischen Adels durch eine festgelegte Rangfolge geregelt: Der höchste Titel war der eines Großfürsten, der den Mitgliedern der Zarenfamilie vorbehalten war, daneben gab es Tausende von Prinzen, Grafen und Baronen.
Prinz Olonow nannte zwar auch eine prächtige Residenz in Sankt Petersburg sein Eigen, verbrachte jedoch seine Zeit lieber auf dem weitläufigen Landsitz, der einem englischen Herrenhaus nachempfunden war und jeden erdenklichen Komfort bot. Das im palladianischen Stil erbaute Gebäude in der Provinz Pskow beeindruckte durch seine imposante Fassade und die separaten Seitenflügel, die durch Korridore mit dem Haupthaus verbunden waren. Es stand inmitten von kunstvoll gestalteten, repräsentativen Gärten und prächtigen Alleen. Hunderte von Werst Land umgaben es, eine abwechslungsreiche Landschaft aus Birken- und Fichtenwäldern, sanft hügeligen Weiden, Teichen und Bächen und üppigen Getreidefeldern, die sich im Laufe des Jahres dank der Arbeit der Leibeigenen vom winterlichen Grauschwarz grün oder golden färbte, je nachdem, welche Frucht gerade auf ihnen wuchs: Weizen, Mais, Sonnenblumen oder Zuckerrüben. Prinz Olonow besaß Tausende von Seelen. Ein Teil der Leibeigenen wohnte auf dem Gut, die meisten jedoch in einem der vielen kleinen Weiler, die in die Landschaft getupft waren.
Antonina war das jüngste von vier Kindern. Sie hatte drei ältere Brüder, wobei der kleinste von ihnen bereits acht war, als sie geboren wurde.
Lilja war die Tochter eines Schmieds und einer Feldarbeiterin. Ljoscha, ihr zehn Jahre jüngerer Bruder, hatte als einziges ihrer Geschwister überlebt; zwischen den beiden waren sechs weitere Kinder zur Welt gekommen, die jedoch alle gestorben waren. Die Familie wohnte in einer der neunundachtzig aus einem einzigen Raum bestehenden Hütten des Dorfes Kaschra, das am nächsten zum Gutshaus lag.
Eines Nachmittags Anfang Mai ritt Antonina in Begleitung von Kescha und Semjon durch den Gutswald. Die beiden Männer waren seit drei Jahren ihre Leibwachen, seit sie ihren Vater gebeten hatte, ausgedehnte Ausritte unternehmen zu dürfen, anstatt sich auf das umzäunte Gelände rund um das Gutshaus zu beschränken. Nach einer Weile hielt Antonina an, um ihr Pferd an dem zarten Grün schnuppern zu lassen, das nach dem langen Winter gerade erst zu sprießen begann. Wie von Antonina gewünscht hielten sich Kescha und Semjon im gebührenden Abstand zu ihr. Ihre ständige Anwesenheit ärgerte sie, sie sehnte sich danach, allein zu sein, wirklich allein, auch wenn sie wusste, dass ihr Vater es ihr niemals erlauben würde.
Während ihr Pferd in der ruhigen nachmittäglichen Luft an dem würzigen Gras rupfte, saß Antonina in ihrem Sattel aus weichem, geschmeidigem Leder. Als sie nach einer Weile die Zügel wieder aufnahm, sodass ihr Pferd mit dem Grasen aufhören musste, ließ ein Geräusch sie plötzlich aufhorchen. Sie blickte über die Schulter zurück, bedeutete den beiden Männern, sich nicht von der Stelle zu rühren, und ritt langsam in die Richtung, aus der die Laute kamen – es hörte sich an, als ob jemand weinte.
Auf einer Lichtung kniete ein Mädchen, das ein in Lumpen gewickeltes Bündel gegen die Brust drückte. Antonina beobachtete, wie das Mädchen das Bündel unendlich sanft in eine Mulde bettete, die es in dem feuchten, von abgestorbenen Blättern übersäten Boden gegraben hatte. Dann bedeckte es das Bündel mit Erde. Ganz in seinen Kummer versunken
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