Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
sich nach ihren sonntäglichen Treffen.
Mit der Zeit wurde sie immer ruheloser, eine Niedergeschlagenheit bemächtigte sich ihrer, die ihr den Gefallen an den Vergnügungen raubte, mit denen sie früher die langen Wintertage verkürzt hatte. Weder hatte sie Lust, Schlittschuh zu laufen, noch zu den üblichen Festen der Wintersaison zu gehen, die auf benachbarten Gütern stattfanden, und selbst ihre Bücher vermochten sie nicht mehr zu interessieren. Nur das Klavierspiel spendete ihr wie immer Trost. Doch gleich welches Stück sie auch spielte, jedes erinnerte sie an Lilja. Und ihren Kuss.
Sieben Wochen, nachdem sie Lilja zuletzt gesehen hatte – es war während der Weihnachtszeit –, betrachtete Prinz Olonow mit gerunzelter Stirn seine Tochter, die ihm gegenüber am Frühstückstisch saß. Bedächtig legte er Messer und Gabel auf seinen Teller.
» Komm zu mir, Tochter « , sagte er, und Antonina stand auf und stellte sich vor ihn. Auf seinem stoppligen grauen Schnurrbart hatten sich unter seiner Nase zwei gelblich-orange Streifen gebildet, eine Folge seines unentwegten Zigarrenkonsums.
» Was ist das für ein Anhänger an deinem Hals? « , fragte er und fuhr mit den Fingerspitzen über den ovalen Anhänger mit dem Heiligenrelief, das sie neben einem Kreuz an ihrer Halskette trug.
» Ein Abzeichen vom heiligen Nikolaus, dem Wundertäter und barmherzigsten aller Heiligen. «
Ihr Vater schüttelte den Kopf. » Ich weiß, was es darstellt. Aber woher hast du es? «
Sein Ton ließ Antonina auf der Hut sein. Sie hätte nie gedacht, dass ihr Vater den Anhänger um ihren Hals bemerken, geschweige denn sich dafür interessieren würde.
» Ich frag dich nochmals, Antonina. Wo hast du diesen Anhänger her? «
» Jemand hat ihn mir gegeben « , sagte sie, in der Hoffnung, dass er sich mit dieser Antwort zufriedengeben würde.
Sein Gesichtsausdruck verdüsterte sich. » Wer hat ihn dir gegeben? Einer der Hausleibeigenen? «
Während ihr Vater sie anstarrte, war sie wie gelähmt, wusste nicht, was sie antworten sollte. » Ich weiß es nicht. «
» Was heißt das, du weißt es nicht? Du bist doch sonst nicht auf den Kopf gefallen! « Der bedrohliche Unterton in seiner Stimme erschreckte Antonina. » Los, sag es mir, Antonina Leonidowna. «
Antonina war fest entschlossen, Lilja nicht noch mehr Schwierigkeiten zu bereiten. Ihr Vater umfasste ihre Schultern. » Welcher der Leibeigenen hat es dir gegeben? «
Antonina öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Schließlich sagte sie: » Wie kommst du darauf, dass ich es von einem Leibeigenen habe? «
Die Hände ihres Vaters lagen schwer auf ihren Schultern, während er sie durchdringend ansah. » Solch eine Marke bekommt jede neue Seele, die auf meinem Gut geboren wird. Der Verwalter sagt mir, wenn in einer Familie ein neues Kind auf die Welt kommt, dann vermerkt er den Namen des Neugeborenen im Leibeigenenregister, zusammen mit der Nummer, die der neuen Seele zugewiesen wird. Auch wenn wir einen Leibeigenen kaufen, bekommt er eine Marke mit einer Nummer. « Er streckte die Hand aus und zog an dem Anhänger, sodass Antonina sich näher zu ihm beugen musste. Die Halskette schnitt in ihren Nacken.
Er drehte ihn um und kniff die Augen zusammen. » Ohne mein Monokel kann ich die Zahl nicht lesen « , fügte er hinzu, und Antoninas Herzschlag beschleunigte sich. » Wie lautet die Nummer? Los, sag es mir, Antonina. «
Sie schluckte schwer und schob die Hand ihres Vaters von dem Anhänger weg. Dann kniff sie ebenfalls die Augen zusammen, als bemühte sie sich, die winzigen Zahlen, 962, zu entziffern. » Ich habe das Abzeichen gefunden, Papotschka, irgendwo an einem Feldrand; es ist schon einige Zeit her, bevor es zu schneien begann. Ich fand es hübsch, mehr nicht. Die Nummer lautet 511. «
Ihr Vater trat zurück, und sein Gesicht entspannte sich wieder. » Du hast es gefunden? Aber vorhin hast du gesagt, jemand hätte es dir gegeben! «
Antonina leckte sich über die Lippen. » Ich … ich habe mir eingebildet, ich hätte es von jemandem bekommen. Dass eine Freundin es mir geschenkt hat, Papa. « Sie tat zerknirscht.
Und ihr Vater fiel prompt darauf herein. » Na gut. Du solltest immer die Wahrheit sagen. Sonst machst du mich wütend; wenn du von Anfang an ehrlich zu mir gewesen wärst, hättest du uns diesen Ärger erspart. «
» Ich weiß, Papotschka. « Antonina ergriff seine Hand. » Es tut mir leid. « Sie schmiegte ihre Wange daran.
» Na gut, meine Tochter « ,
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