Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
man über eine Treppe und eine weitere Geheimtür ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Auch wenn man Antonina erzählt hatte, dass man diese Türen als schnellen Fluchtweg hatte einbauen lassen, zum Beispiel, wenn die Familie von Einbrechern bedroht wurde, konnte sie sich nicht vorstellen, dass dies je passieren würde. Schließlich wimmelte es im ganzen Haus vor treu ergebenen Dienern, und draußen wurde das Gut von Leibeigenen und scharfen Hunden bewacht.
Sie riss ein Zündholz an und entzündete die Kerze. Es roch abgestanden in diesem schmalen Treppenhaus, außerdem war es von Spinnweben übersät. Unter den Sohlen ihrer zierlichen Schuhe knirschte Mäusekot. Ohne auf ihren Satinrock zu achten, setzte sie sich auf die zweite Stufe der schmalen, steilen Holztreppe. Sie stützte die Arme auf die Knie und legte die Stirn darauf. Der Champagner hatte einen schalen Geschmack in ihrem Mund hinterlassen. Sie wartete, horchte auf die Stimmen und das Lachen, die aus der Ferne zu ihr drangen. In ein paar Minuten würde sie die Kerze ausblasen und ins Arbeitszimmer ihres Vaters zurückkehren. Inzwischen würde Prinz Kruzki bestimmt eine andere Frau zum Flirten gefunden haben. Sie würde aus dem Arbeitszimmer hinaushuschen und die elegant geschwungene Haupttreppe hinauf zu ihrem Zimmer laufen, ohne dass jemand sie bemerkte.
Sie hatte diesen Tag und das Abendessen tapfer überstanden – die Toasts, die man auf sie ausgebracht hatte, die Glückwünsche, die Küsse seitens ihrer Familie und Freunde und der Freunde ihrer Eltern. Wenn das Orchester zu spielen begann, würde niemand mehr ihre Abwesenheit bemerken.
Plötzlich hörte sie durch die Tür die gedämpfte Stimme ihres Vaters. » Kruzki « , sagte er, » schon genug vom Champagner? «
» Ich bin auf der Suche nach deiner reizenden Tochter, Leonid Stepanowitsch. Ich dachte, ich hätte sie hier hereinhuschen sehen – ich wollte ihr nochmals viel Glück zu diesem besonderen Tag wünschen. Und da ich schon mal hier war, habe ich deine Schwertersammlung bewundert: sehr beeindruckend, alter Freund. «
Antonina setzte sich aufrecht hin, lauschte angestrengt den Worten, die klar und deutlich durch die dünne Holzvertäfelung drangen.
» Dieses Mädchen ist wie ein Schatten « , sagte ihr Vater. » Kaum dreht man sich um, ist sie schon wieder verschwunden. Hier, dieser Madeira wurde erst kürzlich geliefert. Willst du ein Gläschen mit mir trinken? «
Sie hörte das leise Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden, kurz darauf waberte intensiver Zigarrengeruch an ihre Nase. Wie ärgerlich; jetzt saß sie eine Zeit lang in der Falle. Es war unmöglich, ihr Versteck zu verlassen, ohne sich lächerlich und ihren Vater wütend zu machen.
Die Kerze war zu einem Stummel heruntergebrannt; bald würde sie erlöschen. Antonina schauderte beim Gedanken, noch länger an diesem staubigen, dunklen Ort auszuharren. Sie dachte an ihr Zimmer, an das Buch, das dort auf sie wartete, Gontscharows » Eine alltägliche Geschichte « . Allzu gern hätte sie den Roman endlich zu Ende gelesen. Außerdem konnte sie es nicht erwarten, sich ihrer zahlreichen Kleidungsschichten zu entledigen: des Seidenunterkleids, des eng geschnürten Korsetts, das schmerzhaft ihre Rippen zusammenpresste, um ihre Taille zu betonen, der Petticoats und des dunkelgrünen Kleids aus Atlasseide, dessen Farbe, wie ihre Mutter schwärmte, ihre Augen hervorhob. Der Gedanke, stattdessen in ihr leichtes Baumwollnachthemd zu schlüpfen und sich unter ihre dicke Wolldecke zu kuscheln und zu lesen, war schier unwiderstehlich. Morgen würde sie einen weiteren müßigen Abend über sich ergehen lassen müssen. Abgesehen von der Musik, die sie so liebte, war es immer das Gleiche: zu viel Essen und zu viel Trinken, dazu lärmendes Gelächter und die immer gleichen Gespräche.
Ihr Vater und Prinz Kruzki unterhielten sich jetzt über ihre Ländereien und den Getreideanbau, Dinge, die sie herzlich wenig interessierten. Sie fragte sich, wie lange sie noch hier würde sitzen und warten müssen, bis die beiden ihre Gläser geleert und ihre Zigarren zu Ende geraucht hätten und endlich das Zimmer verließen.
Aber natürlich, warum kam sie jetzt erst darauf! Antonina erhob sich und stieg vorsichtig die Treppe nach oben, die zum Schlafzimmer ihrer Mutter führte. Von dort brauchte sie nur über die Flure zu ihrem eigenen Zimmer zu eilen. Instinktiv ließ sie die vierte Stufe aus, die, wie sie sich erinnerte, laut knarrte, und hatte fast den
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