Das Lied der Hoffnung: Roman (German Edition)
Brötchen zu nehmen.
Ihre Mutter senkte kaum merklich die Augenlider. » Nun, ich habe das Orchester weggeschickt. Sie sind vor einer Stunde abgereist. « Dann sah sie Antonina an, ein betont unbekümmertes Lächeln auf den Lippen. » Mittagessen gibt es um ein Uhr. «
Antonina zog die Hand wieder zurück und öffnete den Mund, um zu protestieren. Doch während sie ihre Mutter anstarrte, schloss sie ihn wieder. Wogegen sollte sie protestieren? In diesem Moment hasste sie sie.
» Würdest du bitte mit mir in mein Arbeitszimmer kommen, Antonina? « , sagte ihr Vater.
Sie stand auf und vermied es, ihre Mutter anzusehen.
DREIZEHN
A ntonina fuhr mit der Hand über die glatte gerundete Oberfläche des Globus, der auf dem Schreibtisch stand, wie sie es schon als kleines Kind getan hatte, wenn sie das Arbeitszimmer ihres Vaters betrat.
Normalerweise verhieß es wenig Gutes, ins Arbeitszimmer ihres Vaters zitiert zu werden. Als kleines Mädchen hatte sie hier ihre Strafe empfangen, wenn sie wieder einmal ungezogen zu ihren Hauslehrern gewesen war oder sich vor ihren Kindermädchen versteckt hatte. Später dann musste sie hier eine Standpauke über sich ergehen lassen, weil sie ohne Erlaubnis das Lieblingspferd ihres Bruders geritten hatte; ein andermal, weil sie sich ohne weibliche Begleitung aus dem Haus gestohlen und im See geschwommen war, und wieder ein andermal, weil sie einer Hausleibeigenen heimlich ein schlichtes Kleid ihrer Mutter gegeben hatte, um es bei ihrer Hochzeit zu tragen.
Das letzte Mal war der Vorfall mit dem Abzeichen gewesen.
Obwohl sie kein Kind mehr war, fühlte sie sich wieder so, während sie vor dem ausladenden Mahagonischreibtisch ihres Vaters stand, einem aus London importierten Möbelstück. Was würde er ihr vorwerfen? Dass sie sich zwei Abende zuvor geweigert hatte, mit dem langweiligen Prinz Kruzki zu tanzen, oder dass sie sich am Vorabend erdreistet hatte, ihre Mutter vor dem Geiger zu demütigen?
» Setz dich bitte, Tosja « , sagte Prinz Olonow.
» Danke, Vater. « Sie ließ sich auf den brokatbezogenen Stuhl vor dem Schreibtisch sinken. Das Sitzpolster war ziemlich durchgesessen, wie sie bemerkte, es müsste wieder einmal aufgepolstert werden. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, dass im Gutshaus seit geraumer Zeit keine neuen Möbel angeschafft und nichts an der Inneneinrichtung geändert worden war; das Arbeitszimmer sah fast ein wenig schäbig aus. Die marineblauen Seidenvorhänge waren verblichen und wiesen an den Falten hellere Streifen von der Sonne auf. Von einer der Schabracken hingen lose Fäden herunter.
» Du bist jetzt siebzehn « , sagte ihr Vater. Seine Stirn glänzte feucht, und wieder musste sie an jenen Tag vor drei Jahren denken, als er Lilja und Ljoscha von ihren Eltern getrennt hatte. Es war kühl im Zimmer, eine frische Märzbrise wehte durch das angelehnte Fenster hinter dem Schreibtisch des Prinzen herein und kräuselte die verblichenen Gardinen. Er erhob sich; Antonina tat es ihm gleich, weil sich das für eine Tochter gehörte. Sein Verhalten verwirrte sie. Irgendwie hatte sie das Gefühl, dass sie es war, die ihm dieses Unbehagen einflößte.
» Deswegen habe ich eine Heirat für dich arrangiert « , sagte er.
» Wie bitte? «
Als ihr Vater nicht sofort antwortete, sondern schweigend hinter seinem Schreibtisch stehen blieb und sich nervös über die Lippen leckte, ergriff sie erneut das Wort: » Aber … mit wem? Und warum? Warum jetzt schon? «
» Es ist Zeit « , sagte er.
Antonina ging um den Schreibtisch herum und trat vor ihn hin.
» Du wirst den Grafen Mitlowski heiraten. «
Einen Augenblick dachte Antonina, sie hätte nicht richtig gehört. » Graf Mitlowski? « Er war Gast auf dem Fest gewesen; Antonina hatte ihn ein paar Mal während dieser letzten beiden Tage gesehen, aber ihr Kontakt hatte sich darauf beschränkt, dass sie sein Geschenk entgegengenommen und sich mit einem Knicks bedankt hatte. » Nein, Vater. « Ihre Stimme wurde lauter. » Er ist ein alter Mann. «
Der Prinz schürzte die Lippen. » Er ist noch keine fünfzig – sechs Jahre jünger als ich « , sagte er. » Und er ist ein ehrlicher Mann. Das weiß ich, weil ich mit ihm schon einige Geschäfte gemacht habe. «
» Geschäfte? Dann ist dies vielleicht auch ein Geschäft für dich? «
Ihr Vater sah sie scharf an. » Antonina, du bist alt genug, um zu verstehen, dass diese Dinge – die Verbindung zweier Adelsfamilien durch eine Heirat – für alle Beteiligten Vorteile
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