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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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sagen, ja? Oh, was bin ich doch für ein kleiner, mieser Scharlatan! Ich bin ein kleiner …«
    »Genug, genug.« Tatzel kicherte. »Du hast es so laut herausgeschrien, dass ich fast glauben könnte, du hast es ernst gemeint. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung. Aber sie wird dir nichts nützen. Ich werde dir zwar sagen, wo ich deine Metze versteckt halte, aber unmittelbar danach wirst du sterben. Wo war ich stehengeblieben? Richtig: bei der jahrhundertealten Eiche. Von dort aus sind es noch einmal hundert Schritt in südwestlicher Richtung. Dann steht man vor der Falltür, die nach unten führt.« Tatzel kicherte schon wieder. »Vorausgesetzt, man findet sie, denn sie ist mit Laub getarnt.«
    »Ich werde sie finden.«
    »Nichts wirst du. Du wirst jetzt sterben. Entspanne dich, damit wir es hinter uns bringen. Ein schneller Schnitt, der nicht weh tut, und schon ist alles vorbei.«
    Tatzel beugte sich über Abraham, und dieser schloss die Augen. Er stellte sich vor, er wäre in der Höhle bei Alena und hielte sie ganz fest in seinen Armen. Ganz fest hielt er sie, und plötzlich schien ihm das Sterben leicht. Doch dann öffnete er wieder die Augen, denn er hatte ein winziges Geräusch vernommen. Es war vom Bett her gekommen. Vom Bett?
    »Ich habe mich für die Beinschlagader entschieden. Halte still, Scharlatan.«
    Lieber Gott, dachte Abraham, gib, dass der Verrückte nichts gehört hat. Bitte … Laut sagte er: »Du hältst das Skalpell falsch, genauso, wie du es damals falsch gehalten hast bei deiner missglückten Tumoroperation, der Operation, die dein und mein Schicksal so entscheidend beeinflusst hat.« Er redete nur noch um des Redens willen, aber das war egal. Alles war auf einmal egal, denn im selben Augenblick, als Tatzel sich anschickte, den tödlichen Schnitt zu tun, bekam er einen kräftigen Hieb auf den Kopf. Er gab einen Laut von sich, der wie das Seufzen eines Kindes klang, und sank seitwärts zu Boden. Das Skalpell fiel ihm aus der Hand.
    Ein Gefühl grenzenloser Erleichterung durchrieselte Abraham. »Danke, Pentzlin«, flüsterte er, »danke, das war wirklich höchste Zeit.«
    Dann schloss er erschöpft die Augen und war wieder bei Alena in der Höhle. Er hielt sie in den Armen, küsste sie und wiegte sie hin und her, und sie blickte ihn aus ihren wunderschönen schwarzen Augen an.
    »Ich komme zu dir«, flüsterte er. »Ich muss dich nur noch finden. Warte ein Weilchen, warte, ich muss dich nur noch finden.«

[home]
    Von dannen Er kommen wird,
zu richten
die Lebendigen und die Toten.
    Auszug aus dem Apostolikum
    A m Mittwoch, dem dreizehnten Mai, wurde Abraham zum zweiten Mal zu Professor Runde zitiert. Die Aufforderung kam per Universitätsbote und überraschte ihn bei seiner morgendlichen Visite im Hospiz. Wider Erwarten durfte er dort noch immer seinen Dienst verrichten, was er einzig und allein Professor Richter zu verdanken hatte, der nach wie vor zu ihm hielt. »Mein lieber Abraham«, hatte er am Tag nach der Greuelnacht zu ihm gesagt, »wie ich die Georgia Augusta im Allgemeinen und Fockele, den
Secrétaire,
im Besonderen kenne, wird jetzt alles auf das Genaueste untersucht. Doch ich muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass die Geschehnisse keineswegs an die große Glocke gehängt werden dürften. Das Kapitel Hermannus Tatzel, der gottlob – oder Gott sei’s geklagt, je nachdem, wie man es nimmt – seinen Verletzungen erlegen ist, gereicht unserer geschätzten Lehranstalt nicht gerade zum Ruhm, und der Tod der Henrietta von Zarenthin, der es gelungen ist, die gesamte Universität über ihre Identität zu täuschen, geht in erster Linie ihre Familie etwas an, die, wie ich hinzufügen möchte, Wert auf äußerste Diskretion legen dürfte. Nein, nein, diejenigen, die es betrifft, mögen ihres Amtes walten, und Ihr, mein Bester, arbeitet derweil für mich weiter. Stromeyer sitzt noch immer am Krankenbett seiner Mutter und fällt als Hospitalleiter nach wie vor aus. Da ist mir Eure Hilfe höchst willkommen.«
    »Jawohl, Herr Professor«, hatte Abraham geantwortet, gleichermaßen überrascht und erfreut.
    »Dass Ihr der richtige Mann für diesen Posten seid, habt Ihr nicht zuletzt mit der Heilung von Pentzlin bewiesen. Ein sehr interessanter Fall, der dank Eurer Geschicklichkeit ein gutes Ende genommen hat. Wenn Pentzlins Krankenjournal vervollständigt ist, hätte ich es gern, um es bei Gelegenheit für die Fachwelt zu veröffentlichen. Selbstverständlich mit

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