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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Abraham. Sie hockten ihr gegenüber, in der Formation, wie sie immer auf Abrahams Karren gesessen hatten, und sie sahen aus wie immer. Friedrich der Große mit seinem spanischen Röhrchen, der Schultheiß mit seiner goldenen Amtskette, der Söldner im Harnisch, das Burgfräulein mit dem Spitzhut und dem zerknüllten Taschentuch in der Hand, der Schiffer in seinen derben Köperhosen, der Landmann mit der Forke und die Magd mit ihrer gestärkten Haube. Eine große Ruhe durchströmte Alena bei diesem Anblick. Sie war nicht mehr allein! Alles würde gut werden, denn wo die Puppen waren, da war Abraham nicht weit. Froh begann sie, mit ihnen zu sprechen, aber sie antworteten ihr nicht, denn nur Abraham konnte ihnen Leben einhauchen.
    Immer wieder bemühte sie sich, den Figuren eine Reaktion zu entlocken, aber sie saßen nur stumm und steif da. Eine große Enttäuschung ergriff von ihr Besitz, und über diesem Gefühl erwachte sie.
    Wieder kam sie sich vor wie der armseligste Mensch auf Erden. Sie fragte sich, ob Gott sie dafür strafen wollte, dass sie damals im Kölner Karmel
Maria vom Frieden
die Gelübde nicht abgelegt hatte und stattdessen hinaus in die Welt gegangen war. Doch dann riss sie sich zusammen. Was bin ich nur für eine ungläubige, verzagte, schwache Person!, schalt sie sich im Stillen. Gott ist überall, und er ist auch hier. Wenn ich mich aufgebe, wird er mich aufgeben. Also will ich stark sein!
    Abermals versuchte sie, sich aufzurichten. Diesmal gelang es ihr. Doch bei dem ersten Schritt, den sie tun wollte, fiel sie zu Boden. Die Fußfesseln! An sie hatte sie gar nicht mehr gedacht. Sie lag auf dem feuchten, festgestampften Boden und roch die Erde des Waldes. Direkt vor ihr musste der Tisch sein. Richtig, da hatte sie sich auch schon den Kopf gestoßen. Sie musste vorsichtiger sein! Mit schlangenartigen Bewegungen kroch sie um den Tisch herum.
    Dann verharrte sie. »Was tue ich hier eigentlich?«, fragte sie sich halblaut. »Es ist doch völlig sinnlos, was ich mache.« Aber sie kroch weiter und gelangte zur gegenüberliegenden Wand der Höhle. Sich halb aufrichtend, spürte sie Stoff und Gerätschaften und erinnerte sich an die Habseligkeiten des Verrückten. Kleider, Angelschnüre. Sie hob ihre gefesselten Hände und berührte die Dinge. Es war unerklärlich, aber irgendwie ging eine beruhigende Wirkung von ihnen aus. Vielleicht, weil es Dinge waren, von denen sie insgeheim hoffte, der Verrückte würde sie sich wiederholen.
    Sie tastete weiter und stieß einen erschreckten Schrei aus. Etwas hatte sie getroffen. Es war von oben auf ihren Kopf herabgefallen. Sie überlegte. Wahrscheinlich war es der Doktorhut des Verrückten. Was hatte er gesagt? »Ja, es ist mein Doktorhut«, hatte er gesagt. Er habe ihn all die Jahre in Ehren gehalten. Und er sei das Einzige von Wert, das er noch habe, das Einzige, was ihm noch etwas bedeute. Neben seiner Rache. Dieser irrsinnige Mann!
    Es hätte nicht viel gefehlt, und Alena hätte erneut geweint, doch statt sich der Verzeiflung hinzugeben, begann sie zu beten. Und sie betete mit großer Inbrunst die Verse jenes Psalms, der am meisten Trost spendete:
    »Der Herr ist mein Hirte;
    mir wird nichts mangeln.
    Er weidet mich auf einer grünen Aue
    und führet mich zum frischen Wasser.
    Er erquicket meine Seele.
    Er führet mich auf rechter Straße,
    um seines Namens willen.
    Und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
    fürchte ich kein Unglück;
    denn du bist bei mir,
    dein Stecken und Stab trösten mich …«
    Als sie das Amen sagte, fühlte sie sich seltsam gestärkt. Sie war in Gottes Hand. Trotz des kalten Bodens unter sich spürte sie, wie eine wohlige Wärme durch ihren Körper zog. Sie rollte sich zusammen wie ein Kätzchen und wartete darauf, welches weitere Schicksal Gott für sie vorgesehen hatte.
     
     
    »Was weißt du von Alena? Los, rede!« Abraham wollte mit schier übermenschlicher Kraft die Fesseln an seinem Körper sprengen, doch natürlich war es vergeblich. Mehrmals versuchte er es gegen jede Vernunft und gab schließlich auf. Heftig atmend besann er sich eines Besseren und begann, die Verknotungen an Armen und Beinen zu lösen. Doch Tatzels Stimme unterbrach ihn. Er sprach mit schwacher, aber noch immer fester Stimme, obwohl sich schon ein See aus Blut um ihn herum gebildet hatte. Blut, das im Schein der Laterne schwarz schimmerte.
    »Lass das«, sagte Tatzel. »Es wird dir nichts nützen. Deine Metze ist in der Erdhöhle, die ich mir graben musste,

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