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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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der eine Frau lebendig begräbt! Na, der gute Ausgang von allem stimmt mich so in einen Freuden- und Jubelton, dass ich es gar nicht aussprechen kann!«
    Das alles lag anderthalb Wochen zurück, und auch wenn so etwas wie Alltag wieder Einzug in sein Leben gehalten hatte, musste er doch häufig genug an die Ereignisse denken, die sich unauslöschlich in sein Hirn gebrannt hatten.
    Was würde Professor Runde von ihm wollen?
    »Ich komme, sowie ich hier fertig bin«, sagte Abraham zu dem Boten. »Richte aus, der Herr Prorektor könne spätestens in einer halben Stunde mit mir rechnen.«
    Nun stand er vor der Tür und fragte sich, ob er ohne weiteres Klopfen eintreten durfte, als Fockele plötzlich erschien und mit der für ihn typischen wichtigen Miene sagte: »Seine Exzellenz erwartet Euch.« Dann öffnete er die Tür zum Allerheiligsten und flüsterte zu Abrahams Überraschung: »Viel Glück.«
    »Guten Morgen«, wünschte Abraham näher tretend und versuchte, seiner Stimme einen festen Klang zu geben. »Ich wäre gern ein paar Minuten früher gekommen, aber ich musste die Visite im Hospital erst zu Ende führen.«
    Runde stand wie schon bei ihrem ersten Gespräch hinter seinem Schreibtisch, nickte kurz und setzte sich. Dann machte er eine einladende Geste. »Nehmt Platz.«
    Abraham gehorchte und fragte sich, ob die Aufforderung als gutes Zeichen zu deuten sei, immerhin hatte er bei Beginn der ersten Unterredung stehen müssen.
    Runde legte die Fingerspitzen aneinander und musterte ihn mit forschendem Blick.
    Abraham wurde unruhig, auch wenn er dem Blick standhielt. Schließlich sagte er: »Ich bedaure die Ereignisse sehr.«
    »Das tun wir alle.« Runde begann, die Fingerspitzen aneinanderzutippen. »Jedenfalls die, die von den misslichen Vorfällen wissen. Die Zahl derer, die davon Kenntnis haben, ist ohnehin viel zu groß.«
    »Jawohl, Euer Exzellenz.«
    »Ich hoffe, Ihr seid mit den Geschehnissen nicht hausieren gegangen?«
    »Nein, ganz sicher nicht.«
    »Soso, ganz sicher nicht.«
    »Wenn ich bisher über die schreckliche Nacht gesprochen habe, Exzellenz, dann immer nur, wenn ich dazu befragt wurde – beispielsweise durch die Universitätsjäger. Das nehme ich jederzeit auf meinen Eid.«
    »Das hört sich gut an, gilt womöglich aber nicht viel.« Runde zog die Brauen zusammen. »Immerhin habt Ihr die gute alte Georgia Augusta schon einmal getäuscht, als Ihr Euch in die Matrikel unter dem Namen Julius Abraham eintragen ließet. Dabei ist Euer wirklicher Name Julius Klingenthal.« Er wedelte mit einem Brief in der Luft, von dem Abraham annahm, dass er von seinem Widersacher Hermannus Tatzel stammte.
    Runde fuhr fort: »Damit nicht genug, habt Ihr eine weitere Täuschung auf dem Gewissen, die Ihr zwar nicht selbst begangen, aber doch gedeckt habt, nämlich jene der Henrietta von Zarenthin, die in Männerkleidern herumlief und vorgab, ein Student zu sein.«
    Abraham blickte zerknirscht. »Es war mein größter Wunsch, mein damals abgebrochenes Studium zu Ende zu führen, Exzellenz. Vieles habe ich dafür in Kauf genommen. Häme, Spott, Anfeindungen und mehr, wie Professor Richter jederzeit bezeugen kann.«
    Runde winkte ab. »Das weiß ich alles.«
    »Ähnlich mag es Henrietta von Zarenthin ergangen sein. Sie wünschte sich ebenfalls nichts mehr, als eine Ärztin zu werden. Insofern hatten sie und ich etwas gemeinsam. Vielleicht habe ich sie deshalb nicht verraten. Manchmal denke ich, es wäre besser gewesen, es zu tun, dann wäre sie heute noch am Leben.«
    Runde schwieg. Dann sagte er: »Ich habe das Protokoll der Universitätsjäger über die fragliche Nacht mehrmals gelesen. Die Fakten, wie sie von Euch geschildert wurden, machen Sinn. Sie scheinen zu stimmen, auch wenn Henrietta von Zarenthin und Hermannus Tatzel beim Erscheinen der Jäger schon tot waren und Pentzlin, wie er aussagte, erst aufwachte, als Tatzel Euch mit einem Skalpell bedrohte. So weit verstehe ich alles. Was mir nicht klar ist, sind die Motive von Tatzel. Warum hat er das alles getan?«
    Abraham räusperte sich. Er musste daran denken, wie die sterblichen Überreste des Hermannus Tatzel vor einer Woche in ein Armengrab gelegt worden waren. Der Gemeindepfarrer hatte ein kurzes Gebet gesprochen und abschließend das Kreuz geschlagen, danach war Abraham allein mit dem Toten gewesen. Er hatte keine Bitterkeit oder sonstigen Regungen gespürt, nur ein seltsames Gefühl der Zufriedenheit, weil beide – Tatzel und er – nun ihre Ruhe

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