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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Betrüger, welch köstlicher, erhebender Gedanke.«
    »Aber du selbst wirst ebenfalls tot sein. Wirf dein Leben nicht fort – und meines auch nicht. Du hast einmal den Eid des Arztes geleistet, vergiss das nicht. Wer einmal Arzt ist, ist es für immer.«
    »Haha, der kleine Scharlatan argumentiert! Er argumentiert um sein Leben. Oh, wie ich diesen Augenblick genieße. Mach nur weiter so, mach weiter so.«
    »Als Arzt bist du verpflichtet, Leben zu retten, nicht zu zerstören. Das hast du einst vor Gott geschworen.«
    »Komm mir nicht mit dem lieben Gott, Scharlatan. Deine Metze, diese Alena, hat auch schon versucht, mich damit einzuwickeln.«
    »Alena? Was ist mit ihr?«
    »Das werde ich dir gerade auf die Nase binden.«
    »Was ist mit ihr? Wo hast du mit ihr gesprochen? Heraus mit der Sprache!« Abraham schrie fast.
    Wieder kicherte Tatzel. Dann wurde er übergangslos ernst. »Sie ist an dem Ort, wo sie sterben wird.«
     
     
    Als die Falltür über ihr zufiel, schien es Alena, als würde ihr jemand den Lebensfaden durchtrennen. Alles wollte sie ertragen, nur nicht das! Sie starrte in die Schwärze, die sie wie ein Leichentuch zu ersticken drohte, rief vergebens nach dem Mann, der sich Nemo, Nemorensus oder Arminius Pesus nannte – keiner der drei Namen sagte ihr etwas –, und brach in Schluchzen aus. Die Finsternis um sie herum war so vollständig, so allumfassend, wie sie es noch nie erlebt hatte. Auch in der schwärzesten Nacht gab es immer irgendwo einen Hauch von Licht, und wenn es nur ein Stern gewesen war, der durch eine dichte Wolkendecke geschimmert hatte.
    Hier gab es nichts.
    Nur Geräusche. Die Geräusche der Nacht. In ihrer ausweglosen Situation kamen sie ihr plötzlich überlaut vor. Das leise Rauschen der Baumkronen, der Schrei eines Käuzchens. Sie nahm diese Geräusche begierig auf, denn sie stellten ihre einzige Verbindung zur Außenwelt dar. Wieder der Schrei des Käuzchens. Er klang bedrohlich, unheimlich, ja, geradezu höhnisch, wie das Gelächter des Verrückten. Märchen von Trollen, Zaunweibern und Dämonen fielen ihr ein. Sie schauderte und schob die unnützen Gedanken beiseite. Sie würden ihr nicht helfen in ihrer Lage. Sie musste durchhalten, nur durchhalten …
    Sie spürte die kleine Christusfigur unter ihrem Kleid und küsste sie im Geiste. Das beruhigte sie vorübergehend.
    Dann begann sie, um Hilfe zu rufen. Sie schrie mit der ganzen Kraft, deren sie fähig war, schrie sich die Seele aus dem Leib, schrie, bis ihre Stimme nur noch ein Röcheln war, schrie, schrie und schrie …
    Irgendwann verstummte sie. Nicht, weil sie es wollte, sondern weil sie nicht mehr konnte. Sie hatte bis zur Erschöpfung geschrien, und nun weinte sie. Niemand auf der Welt war so verlassen wie sie. Niemand so hoffnungslos dem Tod ausgesetzt!
    Ihr fiel ein, wie es Abraham damals in der kleinen Stadt Steinfurth ergangen war. Er war in einer ähnlichen Situation gewesen. Ein paar Verrückte hatten ihn tief hinab in die Katakomben der Kirche gezerrt und der Länge nach unter den Grundstein geschoben. Eine Tat ohne Beispiel, ruchlos, abscheulich, denn die Kirche senkte sich jedes Jahr um ein oder zwei Zoll, und Abraham, der ebenso wie sie in völliger Finsternis ausharren musste, hatte zusätzlich das Gefühl ertragen müssen, von der Kirche erdrückt zu werden.
    Doch er war befreit worden.
    Sollte sie das als gutes Zeichen nehmen? Vielleicht würde auch sie befreit werden. Aber durch wen? Niemand außer dem Verrückten wusste, wo sie war …
    Alena begann mit schwacher Stimme bis hundert zu zählen, und als sie die Hundert erreicht hatte, begann sie wieder von vorn. Sie wusste nicht, wie lange sie gezählt hatte, aber irgendwann kam es ihr lächerlich und überflüssig vor. Wollte sie zählend auf ihren Tod warten?
    Sie versuchte, durch Zerren und Reißen ihre Fesseln zu lockern, aber es gelang ihr nicht. Sollte sie versuchen aufzustehen? Sie saß nach wie vor auf der Bank, umgeben von den spärlichen, selbstgezimmerten Einrichtungsgegenständen des Verrückten, die sie allesamt nicht sah.
    Dann begann sie wieder zu zählen und nach einiger Zeit, ohne dass sie es bewusst wahrnahm, fiel sie in einen unruhigen Schlummer. Sie träumte, sie würde laute, verzweifelte Worte ausstoßen, Worte, die sie noch nie gehört hatte, Worte aus Silben, deren Klang ihr unbekannt und fremd vorkam. Doch mit jeder Silbe, die ihren Mund verließ, flackerte Licht in der Höhle auf, und in diesem Licht sah sie die Puppen von

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