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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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gefunden hatten. Jeder auf seine Art. Er hatte den Doktorhut genommen, auf den einfachen Holzsarg gelegt und »Der Erhabene sei deiner Seele gnädig« gemurmelt. Dann hatte er den Totengräber gerufen und war gegangen.
    Abraham räusperte sich. »Nun, Exzellenz, warum Tatzel seine Taten begangen hat, hängt sicher mit seinem Lebensweg zusammen. Er hat ihn mir in jener Schreckensnacht geschildert, unter zahllosen Vorwürfen und Anfeindungen. Es ist keine schöne Geschichte.«
    »Erzählt sie mir trotzdem.«
    Abraham berichtete ausführlich über die missglückte Operation, bei der Tatzel das Skalpell ausgerutscht war, und danach in allen Einzelheiten, was dieser über sein weiteres Schicksal erzählt hatte.
    Er ließ nichts aus und fügte nichts hinzu, und am Ende sagte er: »Tatzel hat zweifellos manche Tiefen in seinem Leben durchstehen müssen, aber sie rechtfertigen in keiner Weise seine Taten.«
    »Da habt Ihr wohl recht. Ich selbst kann zu seiner Persönlichkeit nichts sagen, da er an diesem Institut zu einem Zeitpunkt wirkte, als ich noch nicht mein Lehramt innehatte. Dennoch scheint festzustehen, dass ihn die Flamme seines Hasses verzehrt hat. Er war besessen von der Idee, sich rächen zu müssen.«
    »Zweifellos, Exzellenz.«
    »Nun, Abraham, äh« – Runde unterbrach sich und tippte wieder die Fingerspitzen aneinander – »wie soll ich Euch eigentlich anreden? Mit Abraham oder mit Klingenthal?«
    »Mein Name ist Abraham, Euer Exzellenz. Es ist der Vorname meines verstorbenen Vaters, den ich anlässlich meiner Heirat angenommen habe. Ich will ihn bis an mein Lebensende tragen.«
    »Nun ja, meinen Segen dazu habt Ihr. Der Name steht im Übrigen auch in Eurer Dissertation, die bei einer Änderung natürlich wertlos wäre. Ebenso wie Euer gesamtes Studium. Lassen wir es also dabei. Das ist für alle Beteiligten besser. Und wenn ich sage, für alle Beteiligten, dann gilt das auch für den Senat und die Dekane der Fakultäten, die ich selbstverständlich in diesen prekären Fall habe einweihen müssen.«
    »Selbstverständlich, Euer Exzellenz.«
    »Im Übrigen wird Eure Dissertation, ohne Professor Richter vorgreifen zu wollen, sehr gut bewertet werden.«
    Abraham begann zu strahlen. »Oh, wirklich? Ich danke Euch sehr.«
    »Dankt mir nicht, denn offiziell wisst Ihr noch von nichts. Es ist im Interesse der Universität, dass mit Euch nach außen hin alles seinen gewohnten Gang geht. Arbeitet also weiter in Richters Hospital, beendet wie geplant Euer letztes Semester, verteidigt an dessen Ende Eure Dissertation vor dem entsprechenden Gremium und empfangt bei der Promotionsfeier wie üblich einen Abdruck des Promotionseides.«
    »Jawohl, das werde ich.«
    »Wie Ihr wohl wisst, unterscheidet sich der Promotionseid der Georgia Augusta nicht unwesentlich vom Eid des Hippokrates. Er verpflichtet Euch unter anderem, Verletzungen zu melden, die aus einem Duell hervorgegangen sind und von Euch behandelt wurden.« Runde machte eine vielsagende Pause. »Ich darf annehmen, dass gerade Ihr für diesen Passus, der die Häufigkeit von Duellen und ihre fatalen Folgen eingrenzen soll, Verständnis habt.«
    »Jawohl, Euer Exzellenz.« Abraham nahm an, dass die Unterredung, die einen so überraschend positiven Verlauf genommen hatte, nun beendet sei, doch er hatte sich geirrt. Denn Runde holte tief Luft und sprach weiter. »Wie heißt es so schön: Wo Licht ist, ist auch Schatten, und dazu komme ich jetzt. Ich sage es Euch ohne Umschweife: Ihr werdet nach Eurer Promotion in Göttingen nicht als Arzt arbeiten können.«
    »Wie bitte …?« Abraham war so konsterniert, dass ihm die Worte fehlten.
    »Der Grund ist einfach. Wenn Ihr bliebet, würde sich Eure Namenstäuschung auf Dauer nicht verheimlichen lassen, ebenso wie die Tatsache, dass Ihr unter einem falschen Glaubensbekenntnis studiert habt. Denn das habt Ihr doch, oder? Ich halte es zwar mit dem Alten Fritz, der meinte, in seinem Staat solle jeder nach seiner Façon selig werden, doch eine Täuschung bleibt immer noch eine Täuschung. Ganz zu schweigen von Eurer Bekanntschaft zu einem Studenten, der in Wirklichkeit eine Studentin war. Nun, ich will nicht noch einmal darauf eingehen, nur so viel: Wenn alles das ans Licht käme – und es käme früher oder später ans Licht –, dann würde es der altehrwürdigen Georgia Augusta einen sehr schlechten Leumund bescheren. Und genau das gilt es zu verhindern. Ihr werdet also die Stadt im Herbst verlassen.«
    »Aber …«

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