Das Lied der Klagefrau
Erwähnung Eures Namens. Ihr habt doch nichts dagegen?«
»Natürlich nicht, Herr Professor.«
»Das freut mich zu hören. Wenn man es recht bedenkt, wäre die mysteriöse Krankheit, die Ihr bei Pentzlin besiegt habt – und sicher bei Burck und Gottwald ebenfalls besiegt hättet, wenn nicht die unselige Geschichte mit Tatzel dazwischengekommen wäre –, auch ein Thema für Eure Doktorarbeit gewesen. Aber, nun ja, das konnte damals ja keiner ahnen, als wir gemeinsam Titel und Inhalt Eurer Arbeit festlegten. Übergebt sie mir in den nächsten Tagen, ich will
De Oculi Mutationibus Internis
wohlwollend in Augenschein nehmen. Und freut Euch ansonsten Eures Lebens, nicht zuletzt, weil Eure liebe Frau ja wieder heil und unversehrt bei Euch ist.«
»Jawohl, Herr Professor«, hatte Abraham gesagt, »ganz wie Ihr meint«, und er hatte an Alena gedacht, und daran, wie er sie im Licht der aufgehenden Sonne in Tatzels Höhlenversteck aufgespürt hatte.
Die Suche nach ihr, auf die er sich sofort nach seiner Befreiung durch Pentzlin gemacht hatte, war schwieriger gewesen als erwartet. Natürlich hatte er auf Anhieb den Weg zum
Grünen Kranze
gefunden, denn das Lokal war ein beliebter Ausflugsort der Göttinger Studenten, und auch den weiteren Weg zu der uralten Eiche hatte er problemlos ausfindig gemacht, denn der Baum ragte viele Fuß über das ihn umgebende Unterholz hinweg. Doch danach war er mit seinem Latein am Ende gewesen. Er hatte sich nicht mehr daran erinnern können, wie viele Schritt in welche Richtung er gehen musste, um zu Tatzels Versteck zu gelangen. Eine Zeitlang hatte er auf gut Glück gesucht, dabei immer unruhiger und hektischer werdend, bis er sich eines Besseren besann und gezielt in immer größer werdenden Kreisen um den Baum herumging, dabei in regelmäßigen Abständen Alenas Namen rufend.
Bei alledem hatte er sich das Hirn über den rechten Weg zermartert und sich ein ums andere Mal über seine Unzulänglichkeit geärgert, über seine Dummheit, sein schlechtes Gedächtnis – gerade in diesem besonderen Fall, wo es um Tod oder Leben ging.
»Alena!«
Immer wieder hatte er ihren Namen gerufen, bis zur totalen Erschöpfung. Er hatte gebetet und geflucht und in seiner Ohnmacht sogar geweint, weniger vor Wut als aus Verzweiflung, bis er endlich eine schwache Antwort auf sein Rufen zu vernehmen glaubte. »Alena?«
Der Laut, den er daraufhin abermals gehört hatte, war dumpf und unverständlich, und die Richtung, aus der er gekommen war, ebenfalls unklar, doch Abraham hatte mit neuem Mut seine Bemühungen fortgesetzt, hatte alsbald eine verborgene Fläche, die mit dichtem Laub abgedeckt war, gefunden, und wie besessen den Waldboden gesäubert. »Alena, ich komme! Hab keine Angst!«
Dann hatte er die Falltür entdeckt und mit einer einzigen Bewegung nach oben gerissen. »Alena!«
Klein und schutzlos wie ein Kind hatte sie auf dem Boden der Grube gelegen, halb auf der Seite, zusammengerollt, neben sich einen schwarzen Hut, den er erst auf den zweiten Blick als einen Doktorhut erkannte. Sie hatte die gefesselten Hände vor ihr Gesicht gehalten, denn das grelle Licht des Vormittags blendete sie.
»Alena, Alena, hab keine Angst!«
Er war in fliegender Hast die Leiter hinuntergeklettert und hatte sie in seine Arme genommen. Sie hatte aufgeschluchzt vor Erleichterung und Glück. »Ich bin ja da. Hab keine Angst, hab keine Angst.«
Immer wieder hatte er diesen einen Satz gestammelt, den Satz, der alles andere bedeutete: Ich bin so froh, dich wiederzusehen. Ich habe Todesängste ausgestanden. Ich habe so viele Fehler gemacht. Du bist das Einzige auf der Welt, das ich habe. Alles wird gut jetzt. Ich liebe dich. Ich will immer bei dir sein. Ich will dich niemals wieder loslassen. Ich liebe dich. Ich liebe dich.
Er hatte sie in seinen Armen gewiegt, gerade so, wie er es während der Begegnung mit Tatzel ersehnt hatte. »Hab keine Angst, hab keine Angst!«
Und dann hatte er sie die ganze lange Strecke nach Göttingen bis zur Güldenstraße zurückgetragen, wo er sie in die mütterliche Obhut der Witwe Vonnegut gab.
Die hatte die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und sich anschließend an den wogenden Busen gefasst. »Dem lieben Herrgott in der Höhe sei Dank, dass ich das noch erleben darf! Alena, Kind, du bist es leibhaftig! Der Spiegel wurd mir blind, so grau war ich vor Sorgen! Wenn ich sagen würd, ich hatte Angst um dich, wär’s grenzenlos untertrieben. Welch
infamer
Schurke muss das sein,
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