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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Darstellung. Bei einer krampfartigen Kontraktion wird die Augenwurzel kräftig zusammengedrückt …
    Er schrieb noch eine Weile weiter und begann dann in bewährter Manier zu übersetzen:
    § 
46
    Quod a priori demonstravimus, oculum a musculis rectis comprimi …
    Er hatte ein gutes Gefühl beim Niederschreiben, denn er wusste, wenn er die wenigen noch verbliebenen Paragrafen beendet hatte, würde abschließend nur noch das Kapitel über den Vergleich zwischen dem menschlichen und dem tierischen Auge – und hier im Besonderen den Okularen der Säuger und der Insekten – zu verfassen sein. Ein Versuch, den niemand vor ihm unternommen hatte. Jedenfalls nicht mit der von ihm geplanten wissenschaftlichen Untermauerung … Endlich war ein Ende in Sicht!
    Unten hörte er plötzlich Stimmen. Was war da nur wieder los, wo er doch gerade so schön in Fahrt war! Ärgerlich sprang er hoch, riss die Tür zum Gang auf und rief in Richtung Eingangstür: »Donner und Doria, Hasselbrinck, was ist denn nun schon … ach, du bist es, Heinrich!«
    Heinrich, der an diesem Sonntag ein sandfarbenes Kamelott aus feinstem holländischem Tuch trug, das besonders gut zu seinem braunen Haar passte, nahm die letzten beiden Stufen der Treppe auf einmal und sagte schelmisch: »›Donner und Doria‹ scheint einer deiner Lieblingsausdrücke zu sein, wenn du missgelaunt bist, Julius. Warum bist du missgelaunt?«
    »Ich bin nicht missgelaunt.«
    »Vielleicht bist du es nicht, aber über deiner Nasenwurzel steht eine steile Falte.« Noch immer sah Heinrich ihn schelmisch an.
    Abraham hob entschuldigend die Hände. »Ich war nur gerade in meine Dissertation vertieft. Es sieht ganz so aus, als würde der Tag, an dem ich sie beende, nicht mehr allzu fern sein.«
    »Ich wusste schon immer, du hast was los!«
    »So wild ist es nun auch wieder nicht.«
    »Doch, doch! Darf ich sehen, was du geschrieben hast?«
    Natürlich durfte Heinrich das. Nur allzu gern zeigte Abraham die eben verfassten Passagen, denn auch er war nicht unempfänglich für ein Lob. Nachdem Heinrich alles gelesen und auch die neuesten Entwicklungen bei den Bergleuten und den nichtsnutzigen Bäckergesellen erfahren hatte, sagte er: »Bei so vielen guten Nachrichten müssten wir eigentlich einen kneipen, Julius.«
    Abraham winkte ab. »Zum Kneipen fehlt mir die Zeit. Und das bisschen Zeit, das mir verbleibt, gehört meiner Frau und meinen Puppen.«
    »Natürlich.« Heinrich wirkte leicht enttäuscht, sagte aber tapfer: »Das verstehe ich.« Dann hellte seine Miene sich wieder auf. »In jedem Fall wirst du demnächst promoviert sein.«
    »So Gott will.«
    »Als frischgebackener Arzt wirst du dich sicher in Göttingen niederlassen wollen?«
    Abraham zog die Brauen hoch. »Darüber habe ich mir noch kaum Gedanken gemacht. Aber wenn ich es recht bedenke, gefällt es mir hier. Die Stadt ist mir ans Herz gewachsen. Ein Geist von Forschung und Lehre weht durch ihre Straßen.«
    »Famos! Dann können wir auch weiterhin zusammenbleiben. Du als Arzt und ich als
Studiosus.
« Heinrich legte seine Hand auf Abrahams Schulter. Es war eine Geste, die Abraham als zu vertraulich empfand. Aber er hätte es unhöflich gefunden, die Hand fortzuschieben. Deshalb nickte er nur.
    Heinrich lächelte. »Wenn du als Arzt in Göttingen bleibst, werden gute Beziehungen dir nicht schaden. Ein Doktor der Medizin lebt nun einmal von seinen Patienten.«
    »Gewiss.« Abraham fragte sich, worauf Heinrich hinauswollte.
    »Ich finde, du solltest Professor Lichtenberg kennenlernen. Er hat vielerlei Beziehungen, ist hoch angesehen und unterhält sogar Kontakte zum englischen Königshaus. Man sagt, König Georg  III . sei ihm freundschaftlich verbunden. Vergiss nicht: Georg  III . ist die Würde des Rektors vorbehalten, des
Rector Magnificentissimus.
Was er wünscht, ist dem Prorektor Befehl.«
    »Sicher, sicher, wem sagst du das. Aber wie kommst du ausgerechnet auf Lichtenberg? Es gibt noch andere bedeutende Größen an der Georg Augusta. Kennst du ihn etwa?«
    Heinrich nahm seine Hand fort, doch gleich darauf legte er sie wieder an den alten Platz. »Ja, gewissermaßen schon.«
    Abraham schüttelte den Kopf. »Im Prinzip hast du ja recht. Beziehungen können nicht schaden. Aber ich will mich niemandem aufdrängen.«
    Heinrich lächelte. »Das ist wieder mal typisch Julius Abraham. Und wenn ich dir nun sage, dass es eigentlich umgekehrt ist? Lichtenberg höchstpersönlich zeigte Interesse daran, dich

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