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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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kennenzulernen.«
    »Mich? Willst du mich auf den Arm nehmen?«
    »Keineswegs. Kommst du mit zum
Schnaps-Conradi?
Dort sitzt der Professor am Sonntagabend immer.«
    »Ich kann nicht.« Abraham dachte an die Auseinandersetzung mit Alena, die nur zwei Tage zurücklag. »Ich muss in einer halben Stunde zum Abendessen in die Güldenstraße.«
    »Schick Alena doch eine Nachricht, dass du später kommst. Die Chance, einen Georg Christoph Lichtenberg näher kennenzulernen, ergibt sich nicht alle Tage.«
    Das stimmte allerdings. Abraham zögerte.
    »Schreib Alena ein paar Zeilen, dass es später wird, und lass Hasselbrinck die Nachricht überbringen.« Heinrich strahlte ihn an.
    Abraham zögerte noch immer.
    »Komm, gib dir einen Ruck.«
    »Nun denn, in Gottes Namen.«
     
     
    »Ihr müsst ein Genie sein.« Professor Lichtenberg saß ohne seine Prinzen in einer Eckbank beim
Schnaps-Conradi
und blickte Abraham verschmitzt entgegen.
    »Ich verstehe nicht ganz.« Abraham war leicht verwirrt. Die Begrüßung durch den berühmten Professor hatte er sich anders vorgestellt. Auch Heinrich, der neben ihm stand, machte ein fragendes Gesicht.
    »Weil Eure Ohrläppchen nicht angewachsen sind.«
    »Wie meinen …?«
    Lichtenberg amüsierte sich. »Ein gelöstes Ohrläppchen bedeutet Genie und Verstand, ein angewachsenes hingegen Dummheit und Trägheit des Geistes.«
    »Aha.« Unwillkürlich betastete Abraham sein Ohr.
    »Setzt euch erst einmal.« Lichtenberg machte eine einladende Geste. Dann bestellte er dreimal vom besten Rotwein – leider musste es diesmal bei der hässlichen Elsie sein – und fuhr fort: »Die Ohrläppchen-These stammt von Lavater, äh, Ihr kennt doch Lavater?«
    »Leider nein, Herr Professor.«
    »Ein Schweizer Pfarrer, der viel von Physiognomie verstehen will. Wenn es nach ihm ginge, bestünde die Hälfte der Menschheit aus Genies, weil ihre Ohrläppchen nicht angewachsen sind. Das ist natürlich Unsinn.« Lichtenberg grinste. »Euch ausgenommen.«
    »Danke, Herr Professor.« Auch Abraham musste schmunzeln.
    Der Wein wurde gebracht, und Lichtenberg prostete seinen beiden Gästen zu. »Wohl bekomm’s, die Herren!« Er trank. »Um auf Lavater zurückzukommen: Wir beide sind einander in herzlicher Polemik verbunden. Zwar gestehe ich dem Manne zu, dass dem Antlitz eines Menschen gewisse Grundzüge des Charakters zu entnehmen sind, auch mögen darin Zeichen seiner Gedanken, Fähigkeiten und Neigungen abzulesen sein, aber von der Schädelform auf die Natur eines Menschen schließen zu wollen ist barer Unsinn!«
    Wieder trank er. »Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen, ehe sie böse Taten begangen haben. Ein physiognomisches
Autodafé,
sage ich Euch! Viel mehr hingegen verrät das Mienenspiel. Und Euer Mienenspiel, mein lieber Abraham, verrät mir, dass Ihr Euch die ganze Zeit fragt, warum ich das alles so episch breit erzähle.«
    »Nun, ich … finde es sehr interessant.«
    »Ja, sehr interessant«, bestätigte Heinrich.
    »Wir können gar nichts von der Seele sehen, wenn sie nicht in den Mienen sitzt. Die Seele legt, so wie der Magnet den Feilstaub, das Gesicht um sich herum. Je länger man Gesichter beobachtet, desto mehr wird man an den sogenannten nichtssagenden Gesichtern Dinge wahrnehmen, die sie individuell machen.«
    Abraham räusperte sich. »Ja … sicher.«
    Lichtenberg trank abermals einen Schluck. »Nach diesem kleinen Exkurs zur Begrüßung ist es mir ein Bedürfnis, Euch, lieber Abraham, zu versichern, wie sehr ich mich freue, Euch kennenzulernen.«
    »Die Freude ist ganz auf meiner Seite.«
    »Wie der junge von Zettritz Euch sicher erzählt hat, sind es Eure ausgezeichneten medizinischen Fähigkeiten, die mich neugierig auf Euch gemacht haben.«
    »Was hast du da
schwadroniert?
« Abraham fuhr zu Heinrich herum. »Wie kommst du dazu?«
    »Gemach, gemach, Abraham, stellt Euer Licht nicht unter den Scheffel. Ich weiß, dass Ihr noch kein approbierter Arzt seid, ich weiß aber auch, dass Ihr als Puppenspieler und Bauchredner tätig wart. Der Gedanke, dass ein Puppenspieler demnächst die Göttinger Ärzteschaft mit ihren zahlreichen Arroganzlingen bereichern soll, macht mir durchaus
Plaisier.
Wie steht’s, beabsichtigt Ihr, den Doktorring zu tragen?«
    »Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht, Herr Professor.«
    »Der Ring an sich ist ein seltsam Ding! In ihm stecken Zahlen wie Pi, die schönste Zahl im Erdenrund –

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