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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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fragte: »Hast du Bauchweh, Liebste?«
    »Nein, wie kommst du darauf?«
    »Ich dachte nur, es wäre, äh, mit deiner Regel wieder so weit.«
    »Nein, ist es nicht.«
    Er atmete auf. »Dann kann ich jetzt wieder ins Hospital zurück?«
    »Ja, geh nur.«
     
     
    Wieder zwei Tage später, am Sonntag, dem sechsundzwanzigsten April, befand Abraham sich im Hospital und war ratloser denn je. Noch immer hatte er nicht herausgefunden, was den drei wie tot daliegenden Bergleuten fehlte. Flessner, der Steiger, der sie aus Bad Grund herbeigeschafft hatte, war zwischenzeitlich wieder zurückgefahren, er wollte Frau und Kind nicht so lange allein lassen. Auch wollte er, wie er hustend fortfuhr, der Bergwerksdirektion und Doktor Tietz über den Stand der Dinge Bescheid geben. Abraham hatte ohnmächtig dagestanden und genickt. Der Aufbruch Flessners kam einer schmerzlichen Niederlage gleich, einer Niederlage, die umso schwerer wog, als auch Professor Richter, der sich endlich im Hospital hatte sehen lassen, Abrahams Hilflosigkeit nicht verborgen geblieben war. Wenigstens hatte Richter ihm keinerlei Vorwürfe gemacht, sondern nur gesagt: »Solange die Patienten essen und die übrigen Körperfunktionen normal ablaufen, ist nichts verloren. Vertrauen wir auf die Zeit, mein lieber Abraham – und macht weiter so.« Und zu Hasselbrinck, der in strammer Haltung neben ihm stand, hatte er gesagt: »Dreht die Patienten häufiger im Bett herum, Hasselbrinck, damit wir Liegegeschwüre vermeiden.« Und wieder zu Abraham: »Der
ulcus per decubitum
ist keineswegs zu unterschätzen. Er kommt manchmal schneller, als man denkt.« Dann hatte er auf seine Taschenuhr geschaut und sich eilig empfohlen.
    Abraham versuchte, sich in Stromeyers Stube mit der weiteren Arbeit an seiner Dissertation etwas abzulenken, doch nach zwei oder drei Seiten warf er den Griffel hin. Er konnte sich nicht konzentrieren. Er musste hinübergehen zu Pentzlin, Burck und Gottwald, er musste irgendetwas tun, egal, was, denn so konnte es nicht weitergehen.
    Nach wenigen Schritten stand er vor ihnen und tat, ohne nachzudenken, etwas, was er zuvor noch nie getan hatte. Er rief, so laut er konnte: »PENTZLIN! «
    Täuschte er sich? Oder hatte Pentzlin tatsächlich mit einem kurzen Flattern der Wimpern auf seinen Namen reagiert? Abraham holte erneut Luft und brüllte mit aller Kraft die Namen der beiden anderen Patienten. Doch diesmal war keinerlei Reaktion zu beobachten. Enttäuscht wandte er sich ab – und starrte in das hochrote Gesicht von Hasselbrinck, der, aufs höchste beunruhigt durch die lauten Rufe, die Treppe heraufgestürmt war. »Was ist denn bloß los, Herr Doktor?«
    »Nichts«, antwortete Abraham. »Es war nur ein weiterer Versuch, durch
actio
eine
reactio
auszulösen.«
    »Ach so.« Der Hospitalwärter schnaufte verständnislos.
    »Leider wieder wohl ohne Erfolg.« Abraham ließ Hasselbrinck stehen und stieg die Treppe hinunter. Hasselbrinck folgte ihm und meldete: »Ich war grade dabei, den unteren Patienten die Medizin zu geben. Johannes, der Junge mit dem Schienbein, ist ja nun weg, wie Herr Doktor befohlen haben, er wird nächste Woche noch mal vorbeikommen, um das Bein zu zeigen, wie Herr Doktor befohlen haben, und das Mütterchen mit der Gicht ist auch weg, sie wollte nach Hause, jetzt, wo die Schmerzen nachgelassen haben.«
    Sie waren mittlerweile in Hasselbrincks Reich, der kleinen Bürokammer, die von Papieren überquoll, angekommen, und Abraham fragte: »Was ist mit Cloose? Hat der Goldschmied endlich Nachricht gegeben, wann er das künstliche Auge fertig hat?«
    »Nein, Herr Doktor, aber Cloose geht’s so weit gut.«
    »Wenigstens etwas.« Abraham verließ den Raum und ging zu der Kammer, in der Bornitz und Möller, die beiden Bäckergesellen mit dem seltsamen Gesichtsausschlag, lagen. Ihr Krankheitsbild gab ähnliche Rätsel auf wie das der Bergleute, denn die Ursache ihres Leidens war nicht zu diagnostizieren. Dennoch schienen sie wenig unter ihrem Zustand zu leiden, sie aßen kräftig und redeten viel. Nachdem Abraham höflich die Tageszeit entboten und sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte, besah er sich wohl zum hundertsten Mal die Stellen im Gesicht, seltsame, bläschenartige Läsionen, die trotz aller Salben und Tinkturen, trotz bester und gesündester Kost nicht abheilen wollten. Irgendetwas stimmte da nicht. Abraham hatte noch nie den Gedanken erwogen, dass es sich bei Bornitz und Möller um Simulanten handeln könne, doch nun keimte

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