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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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zum gemeinsamen Mittagessen im Haus der Witwe Vonnegut zu erscheinen. Es gab dicke Bohnen mit gekochten Schweinerippen, eine Speise, die von den zurzeit im Haus logierenden Studenten – es waren vier – wahrscheinlich als Schlangenfraß bezeichnet worden wäre, hätten sie nicht einen Heidenrespekt vor ihrer Vermieterin gehabt. Alena aß schweigend, doch dafür redete die Hausherrin umso mehr. »Du weißt, Julius«, sagte sie, »dass ich dich von Herzen hochschätze, aber ich würd mich Sünde fürchten, dir zu verschweigen, dass ich mir Sorgen um dich mache. Du zeigst dich in letzter Zeit seltener in diesem Haus als ein Hausierer, der im Winter Singvögel verkaufen will. Nimm mir’s nicht übel, aber das muss sich ändern. Alena vermisst dich sehr.«
    Das stimmte in der Tat. Die Bemerkung trug allerdings nicht zu Alenas guter Laune bei, denn sie fand es mehr als unpassend, dieses Thema vor versammelter Gesellschaft anzusprechen. So sagte sie nichts und stocherte nur weiter in ihrem Essen herum.
    Abraham tat es ihr gleich. Er hatte ein schlechtes Gewissen und fühlte sich denkbar unwohl in seiner Haut. Aber was sollte er machen! Er konnte sich nicht zerteilen. Und das Schlimmste: Bei der Heilung der »wachtoten Patienten«, wie Hasselbrinck sie nannte, hatte er noch keinerlei Fortschritte erzielen können. Nichts als Sorgen und Ärger hatte er, im Hospiz ebenso wie zu Hause. Damit nicht genug, schlummerte seine Dissertation weiter unbearbeitet vor sich hin.
    »Du sagst ja gar nichts, Julius?«
    »Ihr habt recht, Mutter Vonnegut. Ich werde mir Mühe geben und mich bessern.«
    »Oder schmeckt dir das Essen bei der alten Hasselbrinck etwa besser?«
    »Auf keinen Fall, Mutter Vonnegut, auf keinen Fall.«
    Besänftigt wechselte die Witwe das Thema. Sie blickte in die Runde und verkündete: »Ich hab noch ein paar heiße Kastanien, für jeden drei. Sie kamen gestern frisch mit dem Postwagen aus Frankfurt, genauer gesagt, aus Kronburg. Kronburger Kastanien sind die besten, müsst ihr wissen, darauf verwett ich meinen Hut.«
    Beifälliges Gemurmel setzte ein, doch schwang auch ein wenig Heuchelei darin mit, denn niemand am Tisch machte sich viel aus Esskastanien, zumal diese nicht frisch sein konnten, da sie vom letzten Jahr waren.
    »Ihr mögt doch alle Kastanien?«
    »Doch, ja. Ja, ja.«
    »Dann ist es gut.«
     
     
    Oben im Puppenzimmer wandte Alena sich mit zornigen Augen an Abraham. »So geht das nicht weiter, Abraham«, sagte sie, während sie das Bettzeug, das sie am Vormittag gelüftet hatte, in der Truhe verstaute. »Die Witwe hat recht, du lässt dich hier überhaupt nicht mehr sehen. Wenn das so weitergeht, frage ich mich, wozu wir überhaupt verheiratet sind.«
    Der Söldner, der mit den anderen Puppen in einer Zimmerecke saß, rief: »Ich sag ja immer, heirate nie, und wenn deine Kinder dich auf Knien anflehen.«
    Und Friedrich der Große krähte: »Hab’s auch immer so gehalten! Eine
Kanaille,
wer sich den Weibern untertan macht, hähä!«
    »Abraham!« Alena stemmte die Arme in die Hüften. »Mit deinem Puppengerede kommst du mir diesmal nicht davon. Ich will von dir klipp und klar hören, dass du in Zukunft regelmäßig zum Mittagessen und auch nachts hier in der Güldenstraße bist.«
    »Aber Liebste.« Abraham zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich stecke, wie du weißt, in einer Zwickmühle. Das Tragische ist, dass ich, egal, wie ich mich verhalte, immer die andere Seite vernachlässige.«
    »Dann vernachlässige das Hospiz.«
    »Das kann ich nicht, das weißt du selbst. Wenn ich es täte, hätten wir kein Geld. Ich bin froh, dass wir zurzeit alles bezahlen können, was der Alltag verlangt.«
    »Was der Alltag verlangt, ist mir egal, Abraham. Ich verlange nach dir, und das muss das Wichtigste sein.« Plötzlich gab Alena ihre herausfordernde Haltung auf und schmiegte sich an ihn. »Ich bin dir doch das Wichtigste, oder?«
    Abraham küsste Alena auf die Stirn und roch den Duft ihres herrlichen schwarzen Haars. »Natürlich«, murmelte er. »Das war schon immer so, und es wird auch immer so sein.«
    »Versprich mir steif und fest, dass du in Zukunft häufiger zu Hause bist.«
    Er löste sich von ihr und sagte ernst: »Ich verspreche steif und fest, dass ich alles versuchen werde, in Zukunft häufiger bei dir zu sein.«
    Sie küsste ihn.
    »Ich hoffe, das genügt dir?«
    »Ich weiß es nicht, Abraham, ich weiß es wirklich nicht.«
    Unwillkürlich tastete sie ihren Leib ab. Abraham bemerkte es und

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