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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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dieser Verdacht in ihm auf. Wieder besah er sich die befallenen Gesichtspartien auf das genaueste und sagte: »Mit den Krankheiten ist es wie mit dem menschlichen Verhalten: Wenn man erst die Ursache erforscht hat, kann man beides besser verstehen – und entsprechende Maßnahmen ergreifen.«
    »Wie meint Ihr das, Herr Doktor?«, fragte Bornitz. Und sein Bettnachbar fügte hinzu: »Heißt das etwa, Ihr könnt uns heilen? Das wäre ja fast schade, wo es uns hier doch so gut gefällt.« Dann merkte er selbst, wie unpassend seine Rede war, und sprach schnell weiter: »Aber Spaß beiseite, Herr Doktor, wir wären natürlich heilfroh, wenn wir die Stellen endlich loswären.«
    »Nun, wir werden sehen«, sagte Abraham bedeutungsvoll und verließ die Kammer. Auf dem Flur fing er Hasselbrinck ab. »Wohin habt Ihr die gebrauchten Verbände der letzten Tage geworfen?« fragte er.
    Der Hospitalwärter wunderte sich. »Wie meinen, Herr Doktor?«
    Abraham wiederholte seine Frage, bemüht, geduldig zu wirken.
    »Wie immer, Herr Doktor, die ollen Verbände sind im Müll.« Dann fügte er unaufgefordert hinzu: »Und die Essensreste gehen immer zu Nachbar Hennemann, der hat doch die Sau im Stall.«
    »Ja, ja.« Abraham dankte und lief zur Mülltonne auf dem Hof. Dort begann er unverzüglich, nach den alten Leinenstreifen zu graben. Es war ein nicht gerade angenehmes Unterfangen, am Ende aber hatte er gefunden, was er suchte. Es waren mehrere krompressenartige Stoffstücke. Er nahm sie, steckte sie ein und ging zurück zu Bornitz und Möller, die gerade über irgendetwas lauthals lachten. »Wie es scheint, habt Ihr einen Anfall von Heiterkeit«, sagte er mit schiefem Lächeln. »Aber ich denke, ich habe ein gutes Mittel dagegen.«
    »Verzeihung, Herr Doktor«, sagte Bornitz.
    »Nichts für ungut, Herr Doktor«, sagte Möller, »aber es heißt doch immer, Lachen ist die beste Medizin?«
    Abraham ging nicht darauf ein. »Wie gesagt, ich habe das rechte Mittel, Eurer Heiterkeit einen Dämpfer aufzusetzen – und gleichzeitig das Geheimnis Eurer seltsamen Krankheit zu lüften.«
    Die beiden guckten dumm.
    »Ihr leidet beide an einem sogenannten
Pemphigus vulgaris,
einem Bläschenausschlag, der gemeinhin mit der richtigen Behandlung nach ein paar Tagen abklingt.«
    »Und was bedeutet das, Herr Doktor?«, fragte Möller mit schief gelegtem Kopf.
    »Nun, da die Behandlung richtig war, der
Pemphigus vulgaris
aber dennoch nicht weichen wollte, gibt es nur eine Erklärung: Es war ein vorgetäuschter Bläschenausschlag.«
    »Aber Herr Doktor!« Bornitz blickte empört. »Jedermann kann die Krankheit doch sehen. Wie hätten wir sie denn vortäuschen sollen?«
    »Hiermit.« Abraham zog die Stoffstücke hervor und hatte Mühe, nicht allzu triumphierend zu klingen. »Es sind sogenannte spanische Fliegenpflaster, ein probates Mittel unter Studenten, die Bläschenkrankheit vorzutäuschen, wenn eine Klausur droht und man sich dieser entziehen will. Irgendjemand hat Euch die List verraten. Ich will gar nicht wissen, wer.«
    »Aber Herr Doktor …«
    »Steht sofort auf. Und dann geht zu Hasselbrinck und erstattet ihm sämtliche Kosten, die Euer Aufenthalt hier verursacht hat. Und dann schert Euch raus.«
    »Aber Herr Doktor« – Möller gab sich noch nicht geschlagen – »wir haben nicht den kleinsten Pfennig, sind total abgebrannt, wir appellieren an Euer gutes Herz …«
    Abraham wischte seine Bettelei mit einer Handbewegung beiseite. »Wenn Ihr heute nicht bezahlt, gehe ich morgen zu Eurem Meister oder gleich zum Zunfthaus. Ich bin gespannt, was man dort zu Euren Betrügereien sagt.«
    »Jawohl, Herr Doktor.« Kleinlaut nahmen die beiden ihre Sachen und stahlen sich aus der Kammer. Abraham blickte ihnen hinterher, atmete tief durch und musste grinsen. Der Sieg hatte ihm gutgetan. Es war ein Sieg nach Maß. Die Kerle würden bei Hasselbrinck bezahlen, morgen wieder ihrem Beruf nachgehen, ansonsten aber schweigen. Und das war gut so. Nicht auszudenken, wenn die Öffentlichkeit erführe, wie lange er sich an der Nase hatte herumführen lassen!
    Abraham erklomm schwungvoll die Treppe ins Obergeschoss und arbeitete die nächsten zwei Stunden mit Erfolg an seiner Dissertation. Unter einem der letzten Paragrafen, die das Werk komplettieren sollten, schrieb er Folgendes über die Muskulatur des Auges:
    § 46
    Wie wir in dem Vorhergehenden gezeigt haben, wird das Auge von geraden Muskeln zusammengedrückt; nicht wenige Argumente sprechen für diese

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