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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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dreikommaeinsviereinsfünfneunzweisechsfünf und so weiter –, zudem vielerlei kabbalistische Kräfte, wenn man den Beteuerungen der vielen Spintisierer Glauben schenkt, aber auch Zeichen der Macht und der Würde – oder des Verfalls. Wisst Ihr, was für ein Stein das ist?« Lichtenberg streckte Abraham den Mittelfinger seiner rechten Hand entgegen, an dem ein dicker Goldring saß.
    »Nun, äh, das sieht wie Elfenbein aus.«
    »Nicht schlecht geraten. Es handelt sich um den Zahn eines männlichen Rinderkalbs.« Lichtenberg unterbrach seine seltsamen Ausführungen, um einen weiteren Schluck zu trinken. »Der Ring ist mindestens hundert Jahre alt, eine Tante vererbte ihn mir, als ich achtzehn war. Und wisst Ihr, was passierte, als ich zwanzig wurde? Der Zahn bekam plötzlich die Fäule! Nach so vielen Jahren! Lange nachdem aus dem Kalb ein Bulle, aus dem Bullen ein Ochse und aus dem Ochsen ein Stück Braten geworden war.« Lichtenberg kicherte. »Ich weiß nicht, ob daher der Ausdruck ›Zahn der Zeit‹ kommt, jedenfalls ließ ich die kariöse Stelle ausbohren und mit eingefärbtem Gips plombieren, so dass man heute nichts mehr davon sieht.«
    Heinrich fragte: »Meint Ihr, dass nach so langer Zeit immer noch Leben in dem Zahn steckte, Herr Professor?«
    »Aber sicher! Nur was lebt, kann verfallen. Allerdings weiß ich nicht, welche Art von Leben die Fäule verursachte. Doch sei es, wie es sei: Auch an mir nagt der Zahn der Zeit, und Ihr, mein lieber von Zettritz, wart so freundlich, mir die Bekanntschaft mit dem angehenden Mediziner Abraham zu ermöglichen.« Lichtenberg blickte Abraham an, und diesem wurde plötzlich klar, warum der Professor die weitschweifige Rede zu Beginn ihrer Unterhaltung geführt hatte: Es war seine ganz eigene Art, auf ein bestimmtes Thema zuzusteuern – in diesem Fall auf die Fragen, die er stellen wollte.
    »Was kann ich für Euch tun?«, fragte Abraham freundlich, obwohl er sich kaum denken konnte, warum ausgerechnet er, ein medizinischer Niemand, einen besseren Rat geben sollte als Koryphäen wie Richter oder Kaestner oder Wrisberg.
    »Ich fürchte, nichts.« Der Hypochonder in Lichtenberg kam wieder durch. »Es geht bergab mit meinem Korpus. Der Geist ist zwar noch willig, aber das Fleisch wird zusehends schwächer.«
    »Wie äußert sich das?«
    »Ach, wo soll ich nur anfangen.« In Lichtenbergs Bewegung lag etwas Tragikomisches, als er abermals sein Glas ergriff, feststellte, dass es leer war, und neuen Wein orderte. »Ein
Marasmus senilis
plagt mich von Tag zu Tag mehr, wie es scheint.«
    »Ihr sprecht von Altersschwäche, Herr Professor? Darf ich fragen, wie alt Ihr seid?«
    »Fast siebenundvierzig. Man mag glauben, das sei für den
Marasmus senilis
zu früh, doch umso schwerer wiegt der Verdacht! Dazu kommt ein gespürter Anfang der Brustwassersucht, die ihr Skalpellkünstler wohl
Hydrothorax
nennt, ferner von Zeit zu Zeit ein konvulsivisches Asthma, das mir die Luft abzuschnüren droht. Im Herbst, wenn die feuchten Nebel aufsteigen, ein schleichendes Fieber, häufig gepaart mit einer hinterhältigen Gelbsucht, und über allem hängt ständig das Damoklesschwert des Schlaganfalls, der
Apoplexie,
außerdem eine
Paralysis
und Disfunktion der rechten Körperhälfte, da ich dort Lähmungserscheinungen wahrnehme. Nicht zu vergessen die Verknöcherung meiner Arterien und Venen, den
Polypus
im Herzen, das Geschwür in der Leber, Wasser im Kopf und die heimtückische Zuckerkrankheit.«
    Nachdem er seine Zipperlein genannt hatte – der Geläufigkeit nach zu urteilen nicht zum ersten Mal –, blickte Lichtenberg Abraham erwartungsvoll an.
    Dem schwirrte der Kopf. Am liebsten hätte er gesagt: Wer so viele Krankheiten hat wie Ihr, kann längst nicht mehr am Leben sein. Doch das verbot sich natürlich von selbst. Ebenso, wie es zwecklos war, einem eingebildeten Kranken seine Angst vor den zahlreichen Gebrechen ausreden zu wollen. Das hatten sicher schon andere versucht. Wie also vorgehen? Abraham räusperte sich. »Angesichts Eurer vielen Leiden müsst Ihr sicher täglich viele Arzneien zu Euch nehmen?«
    »So ist es, Gott sei’s geklagt. Im vergangenen Februar litt ich zusätzlich neun Tage lang an einer Blatterrose, die nicht ganz ausbrach. Von dem Verdruss, dem Kummer und von den
Fatiguen,
die mich regelmäßig quälen, nicht zu reden.«
    »Und jetzt erwartet Ihr wahrscheinlich von mir, dass ich Euch zu weiteren Medikamenten rate?«
    »Deren Einnahme wird sich wohl nicht vermeiden

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