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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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für Bedienstete bestimmt. Er kletterte sie empor, sich noch einmal zur Besonnenheit mahnend, und vernahm mit jeder Stufe größeren Lärm. Beißender Tabakqualm zog ihm entgegen. Nach zehn oder elf Stufen stutzte er. Der Geländerlauf, an dem er sich hinaufgehangelt hatte, nahm hier ein abruptes Ende. Er war gebrochen, vielleicht bei einer heftigen Rauferei. In jedem Fall ragte der untere Teil des Laufs gefährlich wie ein gesplitterter Speerschaft nach oben.
    Abraham schüttelte den Kopf und stieg weiter. Er hatte anderes im Sinn, als sich um gebrochene Geländerläufe zu kümmern.
    Oben angekommen, hielt er sich nicht lange auf, sondern betrat, ohne zu zögern, den großen, saalartigen Raum, der vor ihm lag.
    Und dann blieb er doch stehen. Zu faszinierend war das, was sich ihm darbot. Der Fechtboden – denn um nichts anderes handelte es sich bei dem Saal – war nicht wiederzuerkennen. Lange Tische hatte man hineingestellt, Bänke davor und dahinter, alle dicht besetzt von Dutzenden junger Männer – und alle in bester Laune.
    Auf den Tischen standen Bierkrüge, voll, leer oder halb geleert, Speisen lagen wie hingeworfen da, angefressen und liegengelassen. Die leckeren Göttinger Würste ebenso wie das herzhafte Mittelbrot. Zwei oder drei Hunde streunten unter den Tischen zwischen Bierlachen herum, suchten nach Abfällen oder bettelten um Besseres. Auf einem Podium im Hintergrund standen drei Musikanten, die Fidel, Flöte und Trommel bearbeiteten. Sie spielten keine Menuette, sondern derbe Studentenlieder.
    Und über allem hingen schwere Tabakwolken aus tönernen Pfeifen.
    »Prosit, Collegiales!«, brüllte ein schmerbäuchiger Student an der Stirnseite des längsten Tisches.
»Gaudeamus igitur!«
Er stand auf und hob seinen Krug. »Lasst uns fröhlich sein, wer nicht säuft, soll Grillen fangen! Wie heißt es so schön: Ich liebe den Wein …?«
    »… beim Mondenschein!«, kam es von allen Tischen zurück.
    »Ich liebe die Weiber …?«
    »… und ihre Leiber!«
    »Ich liebe den Suff …?«
    »… nach dem
actus
im Puff!«
    So ging es eine Zeitlang weiter. Nach jeder gereimten Zeile wurden die Bierkrüge erhoben und getrunken. Als Abraham schon dachte, das Treiben würde niemals enden, brüllte der Schmerbäuchige: »Und jetzt den
Landesvater!
«
    Dabei handelte es sich um ein Lied, das bei jeder studentischen Versammlung zu Ehren des Landesvaters, in diesem Fall Seiner Majestät König Georgs  III . von England, angestimmt wurde. Man sang den
Landesvater
wie üblich im Stehen, und als der letzte Ton verklungen war, spießten die Burschen ihre Hüte auf einen Hieber und schworen mit bierernster Miene, auf ewig brav sein zu wollen.
    Abraham blickte grimmig, denn der Schwur schien ihm der reinste Hohn. Er verfolgte, wie die
Burschen
anschließend ihre Hüte wieder von dem Hieber nahmen, und hörte, wie der Schmerbäuchige – gewissermaßen zum Abschluss – einen gewaltigen Rülpser ausstieß. Allgemeines Gelächter. Die Herren wandten sich wieder ihren Tischnachbarn zu und setzten das Gespräch fort, wobei die meisten der
Burschen
schon so verwaschen klangen, als hätten sie Watte im Mund.
    Abrahams Blick schweifte über die Tische, doch er konnte von Zwickow nicht finden. Wo steckte der Kerl nur? In einer Ecke des Saals wurde erneut ein Lied angestimmt. Zunächst nicht beachtet, verbreitete der Gesang sich hartnäckig weiter und weiter, bis schließlich der ganze Saal mit erhobenen Krügen inbrünstig mitsang:
    »Ça, ça geschmauset, lasst uns nicht rappelköpfisch sein!
    Wer nicht mithauset, der bleibt daheim.
    Edite, bibite collegiales,
    weil morgen früh uns schon alles egal ist.«
    Abraham fiel ein, dass er schon von diesem Studentenlied gehört hatte.
Ça, ça geschmauset
war ein Rundgesang, bei dem die erste Zeile vorgegeben wurde und die zweite aus dem Stegreif ergänzt werden musste. Der Refrain danach, mit der Aufforderung, zu essen und zu trinken, war immer gleich. Die Schwierigkeit bestand darin, dass in der zweiten Zeile gleich zweimal eine Reimung Bedingung war. Eine Aufgabe, die für benebelte Köpfe schwer sein musste. Andererseits schienen die
Burschen
an den Tischen es sich leichtzumachen und nur Bekanntes wiederzugeben:
    »Der Herr Professor liest heute kein Collegium,
    er weiß nichts besser, ist selber dumm.
    Edite, bibite, collegiales …
     
    Auf, auf, ihr Brüder, erhebt den Bacchus auf den Thron,
    und setzt euch nieder, wir trinken schon.
    Edite, bibite

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