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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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hatten keine Berührungspunkte gehabt, außer vielleicht bei einer ärztlichen Untersuchung. Außerdem war wohl kaum davon auszugehen, dass Tietz bei Nacht und Nebel hier anreiste, um Burck aus irgendeinem Grund zu meucheln.
    Warum aber war Burck ermordet worden, wenn niemand eine Veranlassung dazu hatte? Wenn niemand einen Grund hatte, ihm zu schaden?
    Abraham begann in seiner Stube hin und her zu wandern, ganz ähnlich, wie Richter es zu tun pflegte. Und dann blieb er jählings stehen. Ein Gedanke war ihm gekommen, so neu und abwegig, dass er ihn faszinierte: Was war, wenn der Mörder gar nicht Burck hatte schaden wollen, sondern ihm, Abraham? Wenn der Meuchler nur den armen Burck benutzt hatte, um ihn zu treffen?
    Aber wer, um Himmels willen, konnte das sein?
    Abraham nahm seine Wanderung wieder auf und blieb abermals stehen. Der Pommeraner!, schoss es ihm durch den Kopf. Reinhardt von Zwickow, diesem hinterhältigen Hundsfott, traue ich alles zu. Und Mediziner ist er auch! Ja, alles scheint auf einmal zu passen. Auch das seltsame »Tock, Tock, Tock«, das jedes Mal zu hören war. Es rührte wahrscheinlich von seinem Hieber her, der beim schnellen Gehen an die Wände schlug.
    Von Beginn an hatte der Kerl es auf mich abgesehen, schon am Albaner Tor, wo ich die Vorstellung mit meinen Puppen gab, um etwas Geld hinzuzuverdienen. Das Einzige, was ich ihm je getan habe, ist, dass ich nicht von Adel bin … das heißt, ein Mal habe ich ihn gedemütigt, als er mir das Gassenrecht nehmen wollte. Da habe ich ihm den Hieber aus der Hand gequetscht, der daraufhin in einen Haufen Pferdeäpfel fiel. Ich fühle immer noch Genugtuung, wenn ich daran denke!
    Der Pommeraner ein Mörder?
    Ja, um dafür zu sorgen, dass ich von der Universität gejagt werde! Er hat es schon mehrere Male versucht. Wenn bisher nicht jedes Mal etwas dazwischengekommen wäre, würde heute nicht nur Burck tot sein, sondern auch Gottwald. Und Pentzlin dazu.
    Na warte,
Bürschchen!
    Abraham stellte fest, dass es ein Viertel vor acht Uhr war, und warf sich den Gehrock über.
    Wenn er sich beeilte, würde er pünktlich um acht auf dem Fechtboden der Pommeraner sein.
     
     
    Abraham hatte keine Mühe, das Haus zu finden, denn das Wappen der Pommeraner prangte unübersehbar an der schweren Eichentür. Aber auch sonst wäre er mit Sicherheit nicht an dem Gebäude vorbeigelaufen, denn aus den oberen, halb geöffneten Fenstern drang ein höllengleicher Lärm. Die Landsleute, die der Burschenschaft ihren Namen gegeben hatten, galten allgemein als trinkfest; sie schienen auch heute ihrem Ruf gerecht werden zu wollen.
    Ohne zu zögern und ohne den Klopfer zu betätigen, betrat Abraham das Haus. Seine Miene war grimmig und sein Zorn auf diesen kleinen dummen Jungen keineswegs verraucht. Als er in der Eingangshalle stand, ermahnte er sich selbst zur Ruhe. Wut war noch nie ein guter Berater für ein klärendes Gespräch gewesen. Und Klärung tat not. Abraham war zwar sicher, in von Zwickow den Täter gefunden zu haben, doch ein Beweis dafür stand noch aus. Und dieser Beweis konnte nur darin bestehen, dass von Zwickow seine Schuld zugab.
    Der Lärm aus dem ersten Stock hatte sich mit seinem Eintreten noch verstärkt. Gegröle und Gläsergeklirr, unterbrochen von Liedfetzen, drangen von oben herunter. Er versuchte, einen klaren Kopf zu behalten. Die Wahrscheinlichkeit, dass von Zwickow sich im Erdgeschoss aufhielt, war zwar gering, musste aber ausgeschlossen werden. Abraham sah sich um, öffnete nacheinander alle Türen, entdeckte eine Bibliothek, einen kleinen Rauchsalon, mehrere Studierzimmer und eine Garderobe. Nein, hier war der Gesuchte nicht.
    Abraham ging die breite, marmorne Treppe hinauf, um von Zwickow unter den Zechern zu suchen. Doch als er im ersten Stock anlangte, kam er nicht weiter. Eine mit Jagdszenen reich intarsierte Tür versperrte ihm den Weg. Er griff nach der schweren Klinke. Sie ließ sich nicht niederdrücken. Aha, die Herrschaften wollten also nicht gestört werden. Aber es musste einen anderen Zugang zum Ort des Geschehens geben.
    Abraham stieg die Stufen wieder hinab und drang in den hinteren Bereich des großen Hauses vor. Nach einigem Herumirren kam er in einen halbdunklen Raum, an dessen Wänden mehrere Stichwaffen hingen, dazu einige Wappen und unterschiedliches Gehörn vom Damwild. Er näherte sich dem Fechtboden! In einer Ecke entdeckte er eine hölzerne Stiege, die steil nach oben führte. Sie war schmal und abgenutzt, wahrscheinlich

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