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Das Lied der Klagefrau

Das Lied der Klagefrau

Titel: Das Lied der Klagefrau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolf Serno
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Alena, denn Gott war gütig …
    Nach dem Vaterunser bat Alena alle Anwesenden mitzusingen, und sie stimmte ihr Klagelied an:
    »Am Ende stehn wir stille
    und säen Tränensaat;
    des Heilands mächt’ger Wille
    sich hier erwiesen hat.
    Am Ende stehn wir stille,
    die Toten ruhen wohl,
    denn vivat heißet lebe
    und valet lebe wohl …«
    Danach hielt Alena inne. Es war ihr nicht möglich, weiterzusingen, denn die Gefühle überwältigten sie. Die kleine Gemeinde sah staunend, wie ihr Körper zu beben begann, wie ihre Schultern zuckten und wie Tränen zwischen ihren Lidern hervorquollen. Sie beobachtete, wie die Zuckungen stärker wurden und eine weitere Veränderung mit ihr vor sich ging, denn heftige Weinkrämpfe setzten ein, beutelten sie, schüttelten sie, und es war, als würden sich in ihren Augen Schleusen öffnen.
    Eine ganze Zeit lang weinte sie so, und keiner der Anwesenden konnte sich ihrem Schmerz entziehen. Jeder weinte mit ihr, auf seine Weise.
    »Lasst die Kerzen niederbrennen«, sagte Alena, nachdem sie sich wieder etwas gefasst hatte. »Sie werden Burcks Seele den Weg zu Gott weisen … Amen.«
    Sie steckte ihr Kruzifix ein und schickte sich an zu gehen.
    »Halt, auf ein Wort noch«, sagte Abraham leise. Er nahm sie beiseite und flüsterte: »Meinst du nicht, dass diese Stunde … ich wollte sagen, meinst du nicht, dass diese bewegende Stunde der Beginn unserer Versöhnung sein könnte? Burck hat uns gezeigt, wie schnell ein Leben verlöschen kann. Sollten wir da nicht jeden Augenblick nutzen?«
    Alena blickte ihn an.
    In ihren Augen standen Wehmut und ein Hauch Unentschlossenheit.
    Abraham setzte nach: »Ich möchte so gern nach Hause kommen. Mir fehlt die Güldenstraße, und meine Puppen fehlen mir auch.«
    »Du kannst jederzeit kommen. Aber ich wohne unten bei Mutter Vonnegut.«
    »Alena, bitte.«
    Sie wandte sich ab, doch ihre Hand streifte dabei seinen Arm. »Lass mich, Julius. Ich bin noch nicht so weit. Und nun
adieu.
«
    Abraham blieb zurück, in Gedanken versunken. Er wartete, bis die Kerzen niedergebrannt waren, und trug dann mit Hasselbrincks Hilfe den toten Burck hinunter in eine leere Krankenkammer, damit er am nächsten Tag zügig auf das Transportgefährt verladen werden konnte. Anschließend schafften sie Pentzlin und Gottwald wieder in den Patientensaal.
    Die Arbeit hatte Abraham abgelenkt, doch nun, da er allein in seiner Stube saß, kehrten die wirren Gedanken zurück. Sie kreisten zunächst um Alena und ihre Ablehnung ihm gegenüber, machten dann einem Fünkchen Hoffnung Platz, denn immerhin hatte sie ihn »Julius« genant und gesagt, sie sei noch nicht so weit. Gut und schön, und wenn sie niemals wieder so weit sein würde? Wenn sie das nur gesagt hatte, um das Gespräch mit ihm schnell zu beenden? Doch nein, so grausam war sie nicht. Ihre echte Trauer um Burck war der beste Beweis. Burck …
    Abrahams Gedanken wandten sich dem verstorbenen Bergmann zu. Die Tatsache, dass er noch immer nicht dessen Todesursache herausgefunden hatte, nagte an ihm. Da konnte Professor Richter noch so viel Verständnis zeigen. Wohl zum hundertsten Mal fragte er sich, ob die starke Drehung des Kopfes damit zusammenhing – und auch dieses Mal gab er sich die gleiche Antwort: nein. Nun gut, so kam er nicht weiter. Er musste Hypothesen aufstellen, wie es bei jeder wissenschaftlichen Arbeit üblich war. Denn um nichts anderes ging es hier – um Erforschung und Erkenntnis. Er musste einfach davon ausgehen, dass die Ursache des Todes in der Kopfdrehung gelegen hat.
    Nächster Gedanke: Wenn dem so war und die schemenhafte Gestalt die extreme Veränderung der Kopfstellung herbeigeführt hatte, dann musste sie mehr wissen als er. Dann musste sie ein Mörder und – nächste Hypothese – wahrscheinlich ein Mediziner sein!
    Ein Mediziner?
    Du bist verrückt, Abraham, schalt er sich. Der Gaul ist mit dir durchgegangen. Und trotzdem: Es gehört nicht viel dazu, auf dem Gebiet der Medizin mehr zu wissen als ich. Ich habe noch nicht einmal mein Studium zu Ende gebracht.
    Ein Mediziner?
    Warum nicht. Ärzte waren keine Heiligen. Es gab in jedem Beruf schwarze Schafe. Aber weshalb, zum Donnerwetter, sollte ein schwarzes Schaf von Mediziner ausgerechnet den armen Burck ermorden? Wer kam da überhaupt in Frage? Abraham überlegte. Tietz vielleicht, der Bergwerksdoktor aus Bad Grund? Der konnte Burck näher gekannt und aus irgendeinem Grund gehasst haben.
    Unsinn! Beide waren von unterschiedlichem Stand,

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