Das Lied der Luege
getan hätte, wäre uns beiden die peinliche Begegnung mit seinen Eltern erspart geblieben.«
»Nun, eigentlich fände ich es ganz romantisch, wenn ein Mann mich an Weihnachten seinen Eltern vorstellen und mich bitten würde, ihn zu heiraten.« Doro verdrehte träumerisch die Augen. »Nur passiert es mir überhaupt nicht, dass ein Mann mich zur Frau will.«
»Du bist noch jung …« Im selben Moment, als Susan die Worte ausgesprochen hatte, wusste sie, dass sie nur eine lapidare Floskel waren. Doro schüttelte auch sofort den Kopf.
»Im nächsten Jahr werde ich vierzig, liebe Susan.« Doro war die Einzige, die Susan bei ihrem richtigen Vornamen nannte, dies aber auch nur, wenn sie allein waren. Sonst war Susan für alle, Theo eingeschlossen,
Peggy Sue
. »Mit dem Thema Männer habe ich abgeschlossen. Hier und da mal ein kleiner Flirt, ein paar verstohlene Küsse in der Dunkelheit, aber eine eigene Familie werde ich niemals haben.«
Susan verzichtete auf eine Antwort, denn die Freundin hatte wohl recht. Es war nicht nur Doros wenig attraktives Äußeres, das die Männer nicht anzog, sondern auch ihre bestimmende, manchmal schon herrschsüchtige Art, die jeden Mann in die Flucht schlug. Kein Mann wollte eine Frau, die ihm sagte, was er zu tun und zu lassen hatte, sondern er wollte der Herr im Haus sein und eine willige und sanftmütige Frau haben. Doro hatte bereits als Kind, nachdem die Mutter gestorben war, für ihre jüngeren Geschwister sorgen und sich dann als rechte Hand von Theo jahrelang im Theater durchsetzen müssen. Der Umgang mit Schauspielern war nicht einfach und erforderte starke Nerven und ein hohes Maß an Durchsetzungsvermögen. Susan verstand, warum Doro stets so entschlossen, oft sogar hart auftrat. In den Jahren ihrer Freundschaft hatte sie zwar auch eine weiche, nachgiebige Seite an Doro kennengelernt, die Freundin zeigte diese jedoch viel zu selten. Niemals würde sie sich einem Mann unterordnen und sich von diesem dominieren lassen. Diesbezüglich waren Susan und Doro sich eigentlich sehr ähnlich. Susan jedoch war vom Schicksal mit Schönheit beschenkt worden, kleidete sich elegant und damenhaft und konnte sich als Schauspielerin jederzeit so geben, wie ihr Gegenüber es von ihr erwartete. Unabhängig davon, dass sie noch verheiratet war – niemals würde sie sich wieder an einen Mann binden, niemals ihre Freiheit und das Leben, das sie jetzt führte, aufgeben. Und niemals wollte sie wieder jemanden lieben, so wie sie ihren Sohn und auch ihre nie gesehene Tochter geliebt hatte. Beide waren ihr entrissen worden. Diesen Schmerz wollte sie nie wieder erleben. Niemand, auch nicht Doro, wusste, dass Susan in den letzten zwei Jahren jeweils im Sommer, während ihrer mehrwöchigen Spielpause, nach Cornwall gefahren war. Unter einem falschen Namen hatte sie sich in dem Fischerdorf Polperro ein Zimmer genommen und war täglich nach Sumerhays, dem Landsitz der Tredarys, gegangen. Dort hatte sie am Tor verharrt, täglich in der Hoffnung, einen Blick auf ihre Tochter – nein, falsch, auf Anabell Callington – erhaschen zu können. Einmal war das Tor geöffnet worden, und eine offene Kutsche hatte das Grundstück verlassen. Gerade noch rechtzeitig war es Susan gelungen, sich im Gebüsch zu verbergen. In der Kutsche saßen Lady Lavinia und ein kleines Mädchen, dessen Gesicht mit einem großen Strohhut vor der Sonne geschützt war. Aus Gesprächen mit redefreudigen Dorffrauen hatte Susan erfahren, dass sich Lady Lavinia und ihre Tochter die meiste Zeit auf Sumerhays aufhielten und nur noch selten nach London fuhren. Lord Tredary besuchte seine Familie zwar regelmäßig, aber das Gerücht, es stehe um die Ehe der beiden wohl nicht zum Besten, hielt sich hartnäckig. Susan wusste nicht, warum sie sich diesen Schmerz antat, nach Cornwall zu fahren, um nur in der Nähe ihrer Tochter zu sein, mit der sie niemals auch nur ein Wort wechseln durfte, dennoch hatte sie die Reise im zweiten Jahr wiederholt. Es war gut, dass sie jetzt nach Frankreich fuhr, das würde sie auf andere Gedanken bringen.
»Schade, dass du nächste Woche nicht in London bist.« Doro riss Susan aus ihren Gedanken. »Ich werde am Neujahrstag zu einer Versammlung gehen und hätte mich gefreut, wenn du mich begleitest.«
»Versammlung?« Susan runzelte die Stirn, und Doro nickte.
»Mrs. Pankhurst spricht über ihre Verhaftung im vergangenen Herbst. Die Anklage wurde zwar fallengelassen, aber die Frauen, die nichts anderes getan
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