Das Lied der Luege
sie angerempelt hatte – es war Ronald McPhearson-Grant. Seit seinem missglückten Heiratsantrag vergangene Weihnachten war sie ihm nicht mehr begegnet, und sie hätte Ronald auch nicht bei einem solchen Fest vermutet.
»Peggy …« Für einen Moment schien er ebenfalls irritiert zu sein, hatte sich aber gleich wieder im Griff. »Wie schön, dich zu sehen.«
»Ronald«, Susan nickte. »Was machst du hier?«
Er zuckte mit den Schultern, murmelte etwas von »geschäftlichen Beziehungen«, da drängte sich auch schon eine junge Frau an seine Seite. Sie war ebenso groß wie er und so schlank, dass sie schon hager wirkte, und ihr spitzes Gesicht mit den blassen blauen Augen war nichtssagend. Besitzergreifend hängte sie sich an Ronalds Arm.
»Möchtest du mir deine Bekannte nicht vorstellen, Ronald?«
Ronalds Gesicht rötete sich leicht, dann sagte er, zu Susan gewandt: »Das ist May … meine Frau.«
»Oh«, entfuhr es Susan. Den Nachsatz »Das ging aber schnell« konnte sie gerade noch hinunterschlucken.
»May, das ist Peggy Sue, wir wurden im letzten Jahr einander vorgestellt«, fuhr Charles fort. Mit einem Finger lockerte er seinen Kragen, es war ihm sichtlich unbehaglich zumute. »Miss Peggy ist Schauspielerin, ich besuchte ein oder zwei Mal eine ihrer Vorstellungen.«
»Ich erinnere mich.« May McPhearson-Grant zog die Stirn kraus und musterte Susan von oben bis unten. »Ich habe von Ihnen gelesen. Sie haben dem Theater inzwischen den Rücken gekehrt, nicht wahr?«
»Nur vorübergehend«, antwortete Susan und bemühte sich um ein zwangloses Lächeln. »Im Augenblick orientiere ich mich neu.«
In diesem Moment trat Charles Landsbury, der Susan inzwischen bemerkt hatte, an ihre Seite und begrüßte sie mit einem Wangenkuss.
»Wie schön, dass du gekommen bist, meine Liebe.« Mit einem leichten Neigen seines Kopfes sagte er zu Ronald und May: »Sir McPhearson-Grant und Lady McPhearson-Grant, es wundert mich, Sie auf unserem kleinen Fest anzutreffen.«
»Ich hoffte, hier einen Mr. Clashmore zu treffen.« Ronald hatte sich wieder im Griff. »Man sagte mir, er wollte sein Jagdhaus im Lake Distrikt veräußern, und meine Familie hat Interesse an einem Erwerb. Es ist mir jedoch bisher nicht gelungen, einen Termin mit Mr. Clashmore zu vereinbaren.«
»Der Herr hat viele Termine.« Charles lachte. »Aber ich habe erst vor wenigen Minuten mit ihm gesprochen, da stand er am Büfett. Kommen Sie, ich mache Sie miteinander bekannt.« Charles wandte sich an Susan. »Ich bin gleich wieder zurück.«
Susan war froh, dass May ihren Mann begleitete und das Gespräch mit ihr nicht fortsetzte. Offensichtlich wusste sie nicht, wie nahe sie und Ronald sich einst standen. Wenn es nach Susan ginge, würde das auch so bleiben. Ronald McPhearson-Grant war eine Episode in ihrem Leben, mit der sie abgeschlossen hatte. Er war zwar ein guter Liebhaber gewesen, und bei seinem Anblick erinnerte sich Susan deutlich an seine fordernden Zärtlichkeiten, er hatte aber schnell Ersatz für sie gefunden. Obwohl Susan nichts über May wusste, ahnte sie, dass die junge Frau eher den Vorstellungen Ronalds Eltern von einer anständigen Schwiegertochter entsprach, als sie es getan hatte. Obwohl Susans Herz nicht an Ronald hing, lief ein Prickeln über ihren Rücken. Sie war eine junge und gesunde Frau und hatte seit Monaten nicht mehr in den Armen eines Mannes gelegen. Solange sie auf der Bühne gestanden und das Publikum mit ihrem Spiel und mit ihrem Gesang verzaubert hatte, hatte ihr das Körperliche nicht gefehlt. Nun jedoch sehnte sie sich nach einer liebevollen Umarmung und einer starken Schulter, an die sich anlehnen konnte.
Nach wenigen Minuten kehrte Charles zu ihr zurück und stellte Susan zahlreichen Gästen vor. Sie würde sich nur einen Bruchteil der vielen Namen merken können, was ihr jedoch gleichgültig war, denn die meisten Gäste auf diesem Fest würde sie ohnehin nie wiedersehen. Susan bediente sich an dem reichhaltigen kalten Büfett, trank mehrere Gläser Champagner und ließ sich von den heißen Rhythmen des Grammophons mitreißen. Die Morgendämmerung fiel durch die Fenster, als nur noch ein kleiner Kreis übrig war, Susan verspürte jedoch keine Lust, nach Hause zu gehen, wo niemand auf sie wartete. Jemand legte eine andere Platte auf. Es war ein langsames, sentimentales Lied, und Susan wiegte sich im Takt der Musik. Charles‘ Arme umschlossen sie von hinten, und sie ließ sich gegen seine breite Brust sinken. Als
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