Das Lied der Luege
eine wahre Wohltat.«
Der Steward zögerte kurz, aber die Zehnpfundnote, die Susan aus ihrer Geldbörse holte und ihm in die Hand drückte, überzeugte ihn davon, sich keine weiteren Gedanken zu machen. Er fuhr seit vielen Jahren zur See und erlebte immer wieder, dass Passagiere, besonders die vermögenden, seltsame Spleens hatten. Wenn es auch gegen die Vorschriften war, dass sich eine Reisende der dritten Klasse auf dem Promenadendeck aufhielt – sofern diese von einer Dame eingeladen worden war, würde es wohl in Ordnung gehen. Er tippte an seine Mütze, versprach, so schnell wie möglich Tee zu bringen, und verschwand.
Nun griff Susan nach dem Arm der Frau und zog sie zu den Liegestühlen.
»Wir sollten uns setzen«, sagte sie freundlich, aber die Frau blieb stehen.
»Warum haben Sie das getan?«
Susan zuckte mit den Schultern. »Um Ihnen Ärger zu ersparen. Vielleicht auch, weil Sie mich interessieren. Ich habe Sie bereits heute Mittag gesehen, als Sie an Bord gingen.«
Langsam sank die Frau in den Liegestuhl. In diesem Moment fegte eine Windbö übers Deck, und Susan bemerkte, wie sie erschauerte. Spontan nahm sie ihr Tuch ab und legte es um die Schultern der Frau, die sofort heftig protestierte.
»Keine Widerrede«, sagte Susan bestimmt. »Ihnen ist kalt, und ich habe noch einen warmen Mantel an.«
»Warum tun Sie das?«, wiederholte die Frau. »Sie gehören zu einer Gesellschaftsklasse, die sich normalerweise nicht um Menschen wie mich kümmert.«
Susan hatte die Frau für eine Irin gehalten, jetzt fiel ihr jedoch auf, dass sie ein völlig akzentfreies Englisch sprach. Auch drückte sie sich gewählt und keinesfalls gewöhnlich aus. Offenbar hatte die Frau früher bessere Tage gesehen. Susans Interesse, das beim ersten Blick auf die Frau geweckt worden war, wurde stärker.
»Warum sind Sie auf das Promenadendeck gekommen?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. »Es muss Ihnen doch bekannt sein, dass auf diesem Schiff die Klassen streng getrennt sind.«
Zum ersten Mal zeigte sich eine Reaktion auf dem Gesicht der Frau. Ihre Augen flackerten, und Susan meinte, für einen Moment einen zornigen Ausdruck in ihnen erkennen zu können.
»Ich wollte die Menschen sehen, die andere zu ihrem eigenen Vorteil rücksichtslos ausbeuten und ein ganzes Volk mit samt seiner Geschichte, seiner Religion und seiner Kultur unterdrücken.«
Susan betrachtete die Frau interessiert. Ihr erster Eindruck hatte sie nicht getrogen. Die Frau war deutlich älter als sie selbst, und die Jahre waren nicht spurlos an ihr vorbeigegangen. Dennoch war zu erkennen, dass sie früher eine Schönheit gewesen sein musste. Die Proportionen ihres Gesichtes waren perfekt ausgewogen, die vollen, roten Lippen in einer sanften Linie geschwungen, und ihre grünen Augen waren von einem Kranz dichter, dunkler Wimpern umgeben.
»Vielleicht fangen wir damit an, uns vorzustellen?«, sagte Susan und reichte ihr die Hand. »Ich heiße Peggy Sue, bin Schauspielerin und gehöre keinesfalls zu den Reichen, wie Sie es nannten. Diese luxuriöse Überfahrt habe ich nur einem spendablen New Yorker Intendanten zu verdanken, an dessen Theater ich ein Engagement bekommen werde. Und wer sind Sie?«
Sie zögerte zuerst, schließlich ergriff sie Susans Hand.
»Mein Name ist Rose Cassidy. Ich komme aus Dalkey. Das ist eine kleine Stadt in Irland einige Meilen südlich von Dublin«, fügte sie hinzu, als sie merkte, dass Susan mit dem Namen des Ortes nichts anfangen konnte.
»Wandern Sie nach Amerika aus?« Susan verbarg ihre Neugier nicht.
»Es bleibt mir nichts anderes übrig, wenn ich überleben will.« Die Antwort war von einem bitteren Unterton begleitet, und Rose Cassidy presste die Lippen aufeinander.
Der Steward, der den Tee brachte, enthob Susan für den Moment einer Antwort. Die beiden Frauen tranken einen Schluck, dann fragte Susan: »Reisen Sie allein, oder werden Sie von Ihrer Familie begleitet?«
Rose’ Kopf ruckte hoch, und erneut glomm ein zorniges Funkeln in ihren Augen.
»Ich habe keine Familie mehr. Ich stehe ganz allein auf dieser Welt. Ganz allein …«
Mitleid durchflutete Susan. Spontan drückte sie Rose’ Hand.
»Das tut mir leid«, sagte sie aufrichtig. »Ich weiß, wie Sie sich fühlen, denn auch ich habe keine Verwandten mehr.«
Rose’ Blick glitt abschätzend über Susans feinen Mantel.
»Sie haben jedoch einen Beruf, der Ihnen offenbar viel Geld einbringt. Alleinstehend und reich zu sein, das ist allemal besser, als
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