Das Lied der Luege
einsam und arm zu sein.«
»Was haben Sie in Amerika vor?«, fragte Susan rasch, denn eine Diskussion über ihre Vermögensverhältnisse war hier fehl am Platz.
Rose zuckte die Schultern. »Irgendetwas wird sich schon ergeben. Ich kann arbeiten, hart arbeiten, und ich fürchte mich vor nichts und niemandem. Nicht mehr, seit …«
Sie brach ab und senkte den Kopf, aber Susan ließ nicht locker.
»Seit was?«
Rose Cassidy sah ihr in die Augen, seufzte und sagte dann: »Warum soll ich es Ihnen nicht erzählen? Wenn wir unseren Tee ausgetrunken haben, gehe ich wieder dorthin, wohin ich gehöre, und Sie kehren zurück in Ihre feine und warme Kabine. Unsere Wege werden sich nie mehr kreuzen.« Susan unterbrach sie nicht und hörte gespannt zu. »Einst hatte ich eine Familie. Einen Mann, den ich über alles liebte und er mich ebenfalls, und zwei wunderbare, kräftige und gesunde Söhne. Wir hatten zwar nicht viel Geld – mein Mann und die Jungs, die eigentlich schon junge Männer waren, züchteten Pferde, keine Rassetiere, sondern kräftige, robuste Ackergäule –, aber irgendwie reichte es immer zum Leben. Und wir hatten uns, das war das Wichtigste. Vor sechs Wochen jedoch wurde mir alles genommen.«
»Was ist geschehen?« Susan wagte nur, zu flüstern. »Hatten sie einen Unfall?«
Rose schüttelte den Kopf und lachte bitter.
»Haben Sie jemals von der Partei Sinn-Féin gehört?«
»Es tut mir leid, nein.« Susan hob entschuldigend die Hände. »Ich habe mich bisher nicht für die Politik in Irland interessiert.«
»Das dachte ich mir.« Zornig runzelte Rose die Stirn. »Ihr Engländer sitzt da in eurem feinen Land, lasst es euch gutgehen, während wenige Meilen entfernt, nur getrennt durch den schmalen Streifen der Irischen See, ein Land ausblutet und die Menschen, die sich dort gegen das System auflehnen, kaltblütig umgebracht werden. Mein Mann setzte sich für ein freies Irland ein. Ein Irland, das wieder den Iren gehört und in dem die Iren ihre Religion, ihre Sitten und Gebräuche und ihre Sprache ausüben können.«
Susan erinnerte sich an Kingsleys Worte und auch an einige Artikel in den Zeitungen, denen sie jedoch keine Aufmerksamkeit geschenkt hatte.
»Es gab da einen Aufstand«, sagte sie langsam. »Vor einigen Wochen …«
Rose Cassidy nickte grimmig. »Meine Söhne waren nicht davon abzuhalten, ihren Vater zu begleiten. Es war ein kurzer und unfairer Kampf, an dessen Ende zweiundfünfzig Iren ihr Leben ließen, während nur ein Engländer eine leichte Schussverletzung erlitt.«
»Oh.« Susan wusste nicht, was sie sagen sollte. Rose Cassidy tat ihr unendlich leid, aber jedes Wort des Trostes hätte nur lapidar und hohl geklungen.
»Man nahm uns unser Haus, das zwar nicht groß und elegant, aber doch unser
Zuhause
war. Drei Tage lang verhörte man mich, um von mir Namen von weiteren Verrätern, wie die Engländer die Freunde meines Mannes nannten, zu erfahren. Ich kann von Glück sagen, dass sie mich nicht gefoltert haben und schließlich gehen ließen. Ich hatte jedoch nichts mehr, außer den Kleidern, die ich auf dem Leib trage. Daraufhin entschloss ich mich, Irland zu verlassen, denn ich konnte nicht länger in dem Land, das mir alles genommen hat, was von Bedeutung war, bleiben.«
»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann …« Im selben Moment, als sie die Worte aussprach, wusste Susan jedoch, dass Rose Cassidy viel zu stolz war, um von ihr auch nur einen Penny anzunehmen. Obwohl offenbar Irin aus der unteren Gesellschaftsschicht, drückte sie sich gewählt und fehlerfrei aus, und ihr Stolz sprach aus jedem ihrer Worte.
Rose ging auf das Angebot nicht ein. Sie erhob sich, nahm das Tuch von den Schultern und reichte es Susan.
»Es wird Zeit, wieder zu meinesgleichen zu gehen.«
»Bitte, behalten Sie das Tuch.«
»Ich brauche keine Almosen …«
»Es ist kein Almosen, sondern ein Geschenk«, unterbrach Susan. »Ein Geschenk, das von Herzen kommt. Ich kann nicht ungeschehen machen, was passiert ist, Sie jedoch brauchen etwas Warmes. Bitte, nehmen Sie es an.«
Man sah Rose an, wie die unterschiedlichsten Gefühle in ihr kämpften. Schließlich legte sie sich das Schultertuch wieder um.
»Danke«, sagte sie leise. »Auch danke für den Tee. Ich glaube, jetzt sollten Sie gehen und sich zum Dinner umkleiden. Nicht, dass der Kaviar auf Ihrem Teller ranzig, der Hummer kalt wird und der Champagner in den Gläsern ausperlt.«
Rose Cassidy wandte sich zum Gehen, doch Susan rief sie
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