Das Lied der Luege
zurück.
»Ich möchte Ihnen wirklich helfen, wenn ich kann. Wenn Sie jemanden zum Reden brauchen – ich habe jederzeit ein offenes Ohr für Sie.«
Rose stieß ein verächtliches Schnauben aus.
»Ich würde Sie nur langweilen. Bleiben Sie bei Ihren Leuten, so wie ich bei den meinen bleibe.«
20. Kapitel
S ofort nachdem sie Leonard Kingsley von dem Gespräch mit Rose Cassidy erzählt hatte, wusste Susan, dass es ein Fehler gewesen war. Kingsley zog verächtlich die Brauen hoch und sagte abfällig: »Diese Iren meinen, als einziges Volk der Welt ungerecht behandelt zu werden. Irland befindet sich seit langer Zeit unter britischer Herrschaft, und das ist auch gut so. Die Menschen dort sind doch gar nicht in der Lage, selbständig zu denken und zu leben. Sie, Miss Peggy, sollten sich jedoch über solche Dinge nicht Ihren kleinen, hübschen Kopf zerbrechen.«
»Das Schicksal der Frau hat mich berührt«, entgegnete Susan. »Schließlich wurden ihr Mann und beide Söhne am selben Tag getötet, und sie wurde verhaftet. Sagen Sie, Mr. Kingsley, werden in Irland tatsächlich noch Menschen gefoltert?«
Er verzog unwillig das Gesicht.
»Das weiß ich nicht, ich bin schließlich Amerikaner und habe mit den Problemen Irlands nichts zu tun. Jetzt wechseln wir das Thema, denn ich möchte mir nicht den Appetit verderben lassen.«
Susan war über so viel Hartherzigkeit entsetzt, spürte jedoch, dass Kingsley weder über Rose Cassidy noch über Irland sprechen wollte. Der Kellner servierte den zweiten Gang – pochierter Lachs in Weißwein-Kapern-Soße mit zarten Buttererbsen –, und Kingsley wandte sich dem Herrn zu, der bei Tisch auf seiner anderen Seite saß. An ihrem Tisch hatte auch wieder Daniel Draycott Platz genommen, der ihrem Gespräch erneut aufmerksam gelauscht hatte.
»Ich finde es bemerkenswert, dass Ihnen das Schicksal anderer Menschen nicht gleichgültig ist«, raunte er Susan zu.
Susan senkte den Blick und verzichtete auf eine Erwiderung.
Kingsley hatte tatsächlich mit dem Kapellmeister der Bordkapelle, die die Gäste nach dem Abendessen im Salon unterhielt, gesprochen, und Susan blieb nichts anderes übrig, als eine Kostprobe ihres Könnens zu geben. Susan entschloss sich, drei Lieder aus
Die Elenden
von Victor Hugo vorzutragen, das in London großen Erfolg gehabt hatte. Susan gab ihr Bestes, aber während sie sang, wurden die Gespräche fortgesetzt, in einer Gruppe machte jemand einen Scherz, über den laut gelacht wurde, und keiner schenkte ihr besondere Aufmerksamkeit. Nachdem Susan ihr zweites Lied beendet hatte und nur spärlicher Applaus erklungen war, raunte der Kapellmeister ihr zu: »Machen Sie sich nichts daraus. Wir spielen uns jeden Abend die Seele aus dem Leib, aber niemand hört zu. Die Damen und Herren erwarten, unterhalten zu werden, ohne dabei an die Künstler zu denken.«
Susan schenkte ihm ein dankbares Lächeln und begann ihr drittes und letztes Lied. Aus dem Augenwinkel sah sie Daniel Draycott den Salon betreten. Er lehnte sich an eine Säule und hörte ihr aufmerksam zu, dabei ließ er sie nicht aus den Augen. Wenigstens einer, dachte sie ironisch, und erwiderte seinen Blick, während sie ihr Lied beendete. Draycott sparte nicht mit Beifall und trat an ihre Seite.
»Sie haben eine schöne Stimme, Miss Sue. Ich bin sicher, New York wird Ihnen zu Füßen liegen.«
»Ja, ebenso wie die Damen und Herren hier«, entgegnete Susan spöttisch. »Sie werden sich zu Begeisterungsstürmen hinreißen lassen.«
Daniel Draycott lachte und reichte ihr seinen Arm.
»Ich glaube, Ihr künftiges Publikum wird Ihre Leistung weitaus mehr zu würdigen wissen. Erweisen Sie mir die Ehre, mit mir einen Drink an der Bar zu nehmen?«
Susan sah sich nach Leonard Kingsley um, konnte diesen aber nirgends entdecken, also hängte sie sich bei Draycott ein.
»Sehr gerne. Ich kann jetzt einen Drink gebrauchen. Hier werde ich auf jeden Fall nicht mehr auftreten.«
Daniel lachte und führte sie in die Bar. Auf sein Anraten hin wählte Susan einen Manhattan, einen Cocktail aus Whisky, süßem Vermouth und einem Bitterlikör, garniert mit einer gezuckerten Kirsche.
»Wo sind Sie bisher aufgetreten, Miss Sue?«, fragte Daniel, nachdem er ihr zugeprostet hatte.
»Bitte, nennen Sie mich Peggy«, antwortete Susan. »Mein Name lautet nämlich Peggy Sue. Wenn Sie mich mit Miss Sue anreden, klingt das so komisch.«
»Peggy Sue und weiter?«
»Nichts weiter.« Susan zuckte mit den Schultern. »Peggy Sue
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