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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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Hände vors Gesicht. Ihr Körper zuckte vor Aufregung. So schnell wurde sie von ihrer Vergangenheit eingeholt. Noch vor einer Stunde hatte sie an Paul gedacht und gehofft, ihn niemals wiederzusehen. Am liebsten wäre sie sofort zum Gefängnis gelaufen und hätte die Verantwortlichen zur Rede gestellt, die Schwerverbrecher vor Ablauf ihrer Strafe einfach freiließen. Susan wusste jedoch, dass das sinnlos war. Ein Jahr für einen Raubüberfall mit Körperverletzung! Das war doch ein Witz! Susan zweifelte nicht im mindesten daran, dass Paul sein kriminelles Leben wieder aufnahm, sobald sich das Gefängnistor hinter ihm geschlossen hatte. Sie wollte aber nicht länger mit einem Verbrecher ihr Leben teilen. Das war jedoch nicht das Schlimmste. Susan stöhnte laut und richtete sich langsam auf. Unwillkürlich presste sie eine Hand auf ihren Bauch. In vier Wochen würde sie ihre Schwangerschaft nicht mehr verbergen können. Paul war zwar nie in eine Schule gegangen, aber er war nicht dumm und würde sofort wissen, dass Susan mit einem anderen Mann das Bett geteilt hatte. Sie kannte Paul gut genug, um zu wissen, dass er ihr das niemals verzeihen würde, auch nicht, wenn sie ihm erklärte, dass sie keine andere Wahl gehabt hatte. Noch heute brannten in Susans Gesicht die Stellen, als Paul sie geschlagen hatte, nur weil sie sich auf dem Markt einmal etwas länger als nötig mit einem Gemüsehändler unterhalten hatte. Paul sah sie und Jimmy als sein Eigentum an. Einen Besitz, den niemand ihm streitig machen durfte. Er würde sie erneut schlagen, wenn nicht sogar umbringen, wenn er von dem Kind erfuhr.
    »Was soll ich jetzt bloß tun? O Gott, was soll ich nur tun?« Susan kniete sich ans Bett und nahm Jimmy in die Arme. Der Junge erwachte und sah seine Mutter aus großen Augen, die die Augen Pauls waren, an.
    »Mami …«
    »Schscht, mein Junge«, flüsterte Susan und küsste Jimmy auf die Stirn. »Es ist alles in Ordnung. Schlaf ruhig weiter.«
    Die ganze Nacht über saß Susan neben dem Bett und starrte in die Dunkelheit. Sie besaß noch ein wenig Geld, vielleicht sollte sie doch den Weg zu einer Engelmacherin wagen? Es musste nicht immer schiefgehen, sie durfte dieses Kind jedoch auf keinen Fall bekommen. Es musste verschwinden, bevor Paul entlassen wurde. Es gab keinen anderen Ausweg, denn Paul würde sie finden, und sie musste zu ihrem Ehemann zurückkehren.
     
    Es kostete Susan vier Tage und ein vorsichtiges Herumfragen in den Läden und in den Straßenschluchten von Smithfield, wo ebenfalls eine arme Bevölkerung lebte, um an eine Adresse zu kommen, wo Frauen in ihrer Situation geholfen wurde. Noch auf dem Weg nach Southwark in eine der schmutzigsten und verwahrlosesten Gegenden Londons war Susan drauf und dran, umzukehren und sich ihren kommenden Problemen zu stellen. Dann jedoch stand sie vor dem hohen, schmalen Haus mit dem abblätternden Verputz und den schmutzigen Fensterscheiben. Wie von selbst klopfte ihre Hand an die Tür. Sie musste nicht lange warten, bis schlurfende Schritte erklangen und die Tür geöffnet wurde. Ein altes, fast zahnloses Weib mit grauen, strähnigen Haaren musterte sie skeptisch von oben bis unten.
    »Haste einen Termin?«
    Susan schüttelte den Kopf. Es störte sie nicht, dass die Alte sie einfach duzte.
    »Man sagte mir, Sie können mir helfen.«
    Ein höhnisches Grinsen huschte über das faltige Gesicht der Frau.
    »Komm rein, ich hoffe, du hast Geld.«
    Susans Finger schlossen sich fester um den Beutel mit Münzen, den sie in ihrer Rocktasche trug. Es war alles, was sie besaß, und sie und Jimmy würden die nächsten Wochen nur von Wasser und Brot leben müssen. Susan war jedoch fest entschlossen, die Alte erst nach getaner und erfolgreicher Arbeit zu entlohnen, darum zog sie den Beutel nicht heraus.
    »Es ist nicht viel, aber mehr habe ich nicht«, sagte sie und schauderte, denn in dem Zimmer, in das sie der Engelmacherin folgte, war es kalt. Kein Feuer brannte im Kamin, und es roch äußerst unangenehm nach Schmutz und auch nach getrocknetem Blut. An der linken Seite stand ein eisernes Bettgestell, und mit einem Blick erkannte Susan rostbraune Flecken auf der gräulichen Wäsche. Susan schluckte, ein Ekelgefühl stieg ihr in die Kehle. Am liebsten hätte sie auf der Stelle kehrtgemacht und wäre geflohen, aber sie hatte keine andere Wahl.
    Die Alte musterte sie erneut, forderte sie auf, sich auszuziehen und auf das Bett zu legen.
    »Hast dir einen Braten in der Röhre andrehen

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