Das Lied der Luege
passiert sein …«, »Sind so viele noch drinnen, besonders oben …«
»Die armen Menschen und auch die Kinder …«
Es dauerte bis zum Morgengrauen, als endlich die letzten Flammen gelöscht waren. Nach wie vor drang Qualm aus den Mauerresten des einst großen Mietshauses. Da die Gefahr für ihr Haus gebannt war, kehrte Susan in ihr Zimmer zurück. Jimmy war in ihren Armen eingeschlafen, doch jetzt wachte er auf und hatte Hunger. Susan bereitete ihm einen dünnen Haferbrei zu, sie selbst konnte nichts essen, ihr Magen war wie zugeschnürt. Obwohl das Dachfenster geschlossen war, roch es überall so stark nach Rauch, als hätte es auch in ihrem Zimmer gebrannt. Es würde Tage dauern, bis dieser Geruch abgezogen war, und Susan musste alle ihre Sachen waschen. Mary Scott, die neugierige Nachbarin, drängte sich ins Zimmer.
»Was für eine Nacht. Zum Glück hat es unser Haus nicht erwischt.«
Susan nickte. »Wissen Sie, ob drüben viele Menschen gestorben sind? Ich habe einige an den oberen Fenstern gesehen.«
Mary hob mit einer bedauernden Geste die Hände. »Die Feuerwehr kann noch nichts sagen, aber es scheint, dass es nicht alle geschafft haben. Hab vorhin gehört, wie jemand gesagt hat, es wären acht Kinder im vierten Stock eingeschlossen gewesen.«
Susan wurde es eng in der Brust. Sie wusste nicht, warum das Feuer ausgebrochen war, aber es hätte ebenso ihr Haus erwischen können. Sie und Jimmy wohnten im vierten Stock, und es gab nur eine Treppe nach unten. Und diese war aus Holz …
»Möge Gott ihren Seelen gnädig sein«, murmelte sie, obwohl sie sonst nicht gläubig war und seit Jahren keine Kirche mehr betreten hatte. Menschen aus ihrer Gesellschaftsschicht glaubten nicht an Gott, der sie offenbar vergessen hatte und sich nur um die Reichen kümmerte.
»Ist das nicht schrecklich?« Lilo Jones, die Nachbarin, die tagsüber, wenn Susan arbeitete, nach Jimmy sah, drängte sich hinter Mary ins Zimmer. »Als ich die Bar verließ, sah ich den Feuerschein. Ich rannte, so schnell ich konnte, denn ich hatte schreckliche Angst, dass es hier brennt. Zum Glück war es das Nachbarhaus.«
»Wollt ihr eine Tasse Tee?«, fragte Susan, obwohl sie sonst kaum etwas mit den Nachbarn teilte. Dazu hatte in diesem Haus jeder zu wenig, aber jetzt war sie froh, nicht allein zu sein. Sogar die Anwesenheit von Mary Scott störte sie nicht, so sehr war Susan von den Ereignissen der Nacht aufgewühlt.
Mary und Lilo nahmen die Einladung dankend an. Während Susan Wasser aufstellte, streichelte Lilo Jimmys Haar.
»Es wäre schrecklich, wenn deinem Jungen etwas passiert wäre«, sagte sie leise. »Er ist ein solch goldiges Kind.«
Susan nickte nur stumm. Sie wusste, Lilo würde nie ein eigenes Kind bekommen, denn sie hatte vor ein paar Jahren einen Unfall gehabt, bei dem sich ein spitzer Zweig in ihren Unterbauch gebohrt hatte. Unter großen Mühen war es den Ärzten gelungen, Lilos Leben zu retten, ihre Gebärmutter war dabei jedoch so sehr verletzt worden, dass sie niemals ein Kind würde austragen können. Lilos Verlobter hatte sich daraufhin von ihr getrennt, da er auf jeden Fall eigene Kinder wollte. Jetzt war Lilo Mitte dreißig und hatte die Hoffnung, heiraten zu können, aufgegeben. Susan dachte, dass sie eine wunderbare Mutter gewesen wäre, so liebevoll, wie sie mit Jimmy umging. Der Junge mochte Tante Lilo ebenso sehr, und so konnte Susan beruhigt ihrer Arbeit nachgehen. Nur dass Lilo in einer Bar arbeitete und sich am Abend nicht um Jimmy kümmern konnte, machte Susan manchmal Probleme. So wie in der vergangenen Woche, als der Junge bei Mary hatte warten müssen. Susan überließ Mary ihren Sohn nur ungern, während sie sich keine Sorgen machte, wenn Jimmy bei Lilo war.
Plötzlich schoss eine Idee durch Susans Kopf, die ihr ganz spontan gekommen war. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie diesen unsinnigen Gedanken daraus verbannen, aber er hatte sich bereits festgesetzt.
»Lilo, musst du jetzt schlafen, oder kannst du ein oder zwei Stunden auf Jimmy aufpassen?«, fragte Susan.
Lilo lachte. »Ich bin zwar müde, aber deinen Kleinen nehme ich mit großer Freude. Nachher musst du ohnehin zur Arbeit, nicht wahr?«
An ihre Arbeit in der Fleischerei hatte Susan gar nicht mehr gedacht, aber es war auch gleichgültig, wenn sie heute dort nicht erschien. Wenn ihr Plan funktionierte, würde sie niemals wieder zu Carter gehen und Schweinehälften zerteilen. Sie stand auf, nahm ihren Mantel und ging zur Tür.
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