Das Lied der Luege
gehen lassen.«
»Esperanza Montoya hat die Masern überlebt.« Doros Stimme war so leise, dass Susan sich neben sie setzen musste, um ihre Worte zu verstehen. »Darüber bin ich froh, wirklich, das musst du mir glauben, aber Theo …« Sie stockte, und Susan sah, wie Doros Augen feucht wurden. »Durch Esperanzas Krankheit hat Theo anscheinend erkannt, was die Frau ihm bedeutet, und er hat ihr einen Antrag gemacht. Vor drei Wochen haben sie geheiratet.«
Von diesen Neuigkeiten war Susan wie erschlagen. Ihr fehlten die Worte, doch sie verstand, warum Doro das
Blue Horizon
verlassen hatte. Jahrelang hatte sie gehofft, dass Theodor Murphy eines Tages nicht mehr nur die Angestellte, sondern auch die Frau in ihr sehen würde. Susan dachte an Sarah Bernhardts Vermutung, Esperanza habe ihr Engagement am
Blue Horizon
nur der Tatsache zu verdanken, dass sie mit Theo das Bett teilte. Damals hatte Susan dies weit von sich gewiesen, doch offenbar hatte Madame Sarah recht gehabt.
»Es tut mir so leid«, murmelte Susan und suchte nach Worten, mit denen sie Doro trösten konnte, wusste aber zugleich, dass es für eine verlorene Liebe keinen Trost gab.
Die Freundin winkte ab und versuchte ein unbekümmertes Lächeln, was ihr misslang. Deutlich erkannte Susan den Schmerz in Doros Augen, als diese sagte: »Im Leben eines Menschen geht immer mal wieder etwas zu Ende, das ist der Lauf des Schicksals. Die Jahre am Blue Horizon waren sehr schön, und ich möchte sie rückblickend nicht missen, habe ich dort doch viele nette Menschen kennengelernt, so wie dich, liebe Susan. Jetzt ist es an der Zeit, nach vorn zu sehen. Mein Job im Royal Court mag vielleicht nicht ganz so aufregend sein, aber ich treffe dort manchmal recht interessante Leute.« Sie sah Susan eindringlich an und schmunzelte. »Zumindest weiß ich jetzt, warum Esperanza Montoya dieses Theater Hals über Kopf verlassen hat, vielmehr verlassen musste.«
»Warum?« Gespannt beugte Susan sich vor.
»Sie stand unter Verdacht, ihre Kolleginnen bestohlen zu haben. Zuerst waren es nur kleinere Geldbeträge, doch dann verschwanden Schmuckstücke oder ganze Geldbörsen, die die Schauspieler in ihren Garderoben aufbewahrten. An einem Abend wurde Esperanza dabei überrascht, als sie sich am Spind einer Kollegin zu schaffen machte. Sie leugnete natürlich, mit den Diebstählen etwas zu tun zu haben, und der Intendant verzichtete auf eine Anzeige, um dem Ruf seines Hauses nicht zu schaden. Esperanza aber musste auf der Stelle das Royal Court verlassen. Die Mitarbeiterin, die mir diese Geschichte erzählte, meinte, ab diesem Tag hörten die Diebstähle schlagartig auf, und seitdem wurde nie wieder etwas vermisst.«
»Weiß Theo davon?«, fragte Susan gespannt. »Du musst ihm sagen, dass er in eine Diebin verliebt ist.«
Doro schüttelte den Kopf. »Dazu ist es zu spät. Als ich von der Sache erfuhr, waren Theo und Esperanza bereits verheiratet. Außerdem … Susan, du kennst Theo, er gibt nichts auf Gerüchte.«
Susan musste zugeben, dass die Freundin recht hatte. Selbst wenn Esperanza ihr Einkommen durch Diebstähle aufgebessert haben sollte – sie war nun Theos Ehefrau, und er würde sich wegen eines Verdachtes, der nicht bewiesen werden konnte, nicht wieder von ihr trennen.
»Jetzt möchte ich aber wissen, wie du das furchtbare Schiffsunglück überlebt hast und warum keiner erfahren hat, dass du noch am Leben bist.« Doro wechselte das Thema und sah Susan gespannt an.
»Bist du nicht müde?«, fragte Susan und deutete auf Doros Stirn. »Vielleicht solltest du mit der Verletzung zum Arzt gehen, nicht, dass du eine Gehirnerschütterung hast.«
Doro schüttelte den Kopf. »Ich bin hart im Nehmen. Wenn ihr zwei« – ihr Blick ging von Susan zu Rosalind – »nicht zu müde seid, dann würde ich die Geschichte gerne erfahren. Jetzt und hier.«
Die Frauen sprachen die ganze Nacht über. Der frühe Morgen eines weiteren Sommertags brach bereits an, als Susan mit den Worten endete: »Ich habe also beschlossen, Jimmy zu finden und alles zu tun, um ihn wieder zu mir zu nehmen. Kein Kind sollte von seiner Mutter getrennt sein.«
Dorothea Hawkins, die in dieser Nacht zum ersten Mal von Susans Ehe und ihrem Sohn gehört hatte, war nicht schockiert, sondern voller Verständnis. Allerdings hatte Susan auch jetzt Anabell und die schwere Schuld, die auf ihren Schultern lastete, verschwiegen. Auch Doro gegenüber behauptete Susan, der Grund, warum sie Jimmy damals monatelang in der
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