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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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den Eimer, der Rosalind zur Verrichtung ihrer Notdurft diente, mitzunehmen.
    »Bitte, ich möchte mit jemandem sprechen«, flehte Rosalind. »Ich bin unschuldig, ich wollte bei der Demonstration nicht dabei sein. Es war nur …«
    »Halt’s Maul!« Rigoros schnitt die Aufseherin Rosalind das Wort ab. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten, als sie Rosalind mit kaltem Blick musterte. »Mit euch verrückten Weibern hat man nur Ärger. Alle Zellen sind belegt, und das Gericht kommt mit den Urteilen kaum nach.«
    »Gericht? Urteile?« In Rosalind glomm ein Hoffnungsschimmer. »Ich möchte einen Anwalt sprechen. Bitte!«
    Die Wärterin lachte höhnisch. »Wenn du den bezahlen kannst, gern. Gib mir zehn Pfund, und ich besorge dir einen Rechtsverdreher.«
    Fest presste Rosalind die Lippen aufeinander, um nicht zu weinen. Sie hatte keine zehn Pfund, sie hatte nicht einmal ein Pfund, außerdem waren ihr die paar Pennys, die sie in der Rocktasche getragen hatte, bei der Inhaftierung abgenommen worden. Ohne ein weiteres Wort verließ die Aufseherin die Zelle. Als sich der Schlüssel mit einem knirschenden Geräusch im Schloss drehte, überkam Rosalind ein Gefühl von Panik. Sie haderte mit sich und der Welt. Warum war sie nur auf dieses vermaledeite Schiff gegangen, auf dem sie Susan Hexton kennenlernte? Und warum hatte sie deren Drängen, sie zurück nach England zu begleiten, nachgegeben? Rosalind wusste die Antwort – es war ihre Angst gewesen, in Amerika ganz allein zu sein. Vor vielen Jahren hatte sie ihre Familie verlassen, um dem Mann, den sie von Herzen liebte, in eine ungewisse Zukunft zu folgen. Die harten Jahre danach waren zugleich ihre glücklichsten, denn Patricks aufrichtige Liebe ließ Rosalind mit dem kargen Leben zurechtkommen, obwohl sie manchmal nicht gewusst hatten, wovon sie die nächste Mahlzeit oder neue Kleidung für die Kinder bezahlen sollten. Dann jedoch hatte sich Patrick der Partei Sinn Féin angeschlossen, in der Meinung, jeder aufrechte Ire müsse für ein freies Irland kämpfen – wenn es sein musste, auch mit Gewalt. Rosalind seufzte und wischte sich die Tränen von den Wangen, die ihr unaufhaltsam aus den Augen strömten. Rosalind erinnerte sich an ihre Ausbildung in dem feinen französischen Pensionat, wo sie auch von der Französischen Revolution gehört hatte. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit … das waren doch nur leere Worte, die auch in Frankreich nicht umgesetzt worden waren. So viele Menschen mussten damals ihr Leben lassen – und wofür? Wenige Jahre später wurde die Monarchie wiederhergestellt, und ein diktatorischer Kaiser saß auf dem Thron und stürzte das Land ins Verderben.
    Mit den Suffragetten war es genau das Gleiche – sie kämpften für etwas, das ohnehin nie erreicht werden würde. Dass Frauen eines Tages den Männern gleichgestellt sein würden, war nur ein schöner Traum. Ein unrealistischer Traum, denn die Welt wurde, solange sie bestand, von Männern beherrscht. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Rosalind war vielleicht nicht mutig, aber intelligent genug, um zu wissen, dass ihr eine Haftstrafe drohte. Immerhin war ein Anschlag auf den Wohnsitz des Premierministers erfolgt. Auch wenn sie selbst keine Schuld daran trug, ja, davon nicht mal etwas gewusst hatte, würde sie verurteilt werden. Da hätte sie gleich in Irland bleiben können …
     
    Als endlich zwei männliche Aufseher kamen, sie grob aufforderten, aufzustehen und mitzukommen, war Rosalind erleichtert. Sie wusste nicht, was sie erwartete, aber alles war besser als diese hilflose Untätigkeit. Man führte sie in einen Raum, in dem bereits viele Frauen auf harten Holzbänken saßen. Vereinzelt erkannte Rosalind die Gesichter, die bei der Demonstration dabei gewesen waren. Eine ältere Frau zischte ihr zu: »Halt den Mund und schweig, gleichgültig, was sie dir einreden. Wir fordern unsere Freilassung, wenn nicht, treten wir in den Hungerstreik.«
    Zwei Männer in grauen Anzügen betraten den Raum und musterten die Frauen. Während einer einen Stapel Papiere auf einen Tisch legte, sagte der Ältere: »Wir haben eure Geständnisse bereits vorbereitet, ihr braucht sie nur zu unterschreiben.«
    »Wir haben nichts zu gestehen!« Rosalind erkannte Sylvia Pankhurst, die, die Arme vor der Brust verschränkt, vortrat. »Unsere Demonstration war friedlich, bis sie von Ihrer Staatsgewalt niedergeknüppelt wurde. Wir haben uns lediglich gewehrt.«
    Alle Frauen traten plötzlich vor und bekräftigten

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