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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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übergeben. Ihre Glieder begannen, unkontrolliert zu zittern, und ihre Zähne schlugen klappernd aufeinander. Obwohl es keine Stelle an ihrem Körper gab, die nicht schmerzte, wusste Rosalind mit erschreckender Klarheit, dass das Sterben nicht so einfach war, wie sie es sich vorgestellt hatte.
     
    »Was wird jetzt geschehen?« Fragend blickte Susan in die Runde. Zwanzig Frauen hatten sich in einem Haus am Rande der Stadt eingefunden, denn die Häuser von Emmeline Pankhurst und anderen namentlich bekannten Suffragetten wurden rund um die Uhr überwacht.
    Vier Tage waren seit dem Aufstand in der Downing Street vergangen, und die Zeitungen waren voll von Hetztiraden gegen die Frauen. Nicht in einem einzigen Satz wurde erwähnt, dass die Gruppe losgezogen war, um ruhig und friedlich zu protestieren, und von der Polizei regelrecht niedergeknüppelt wurde. Die Tatsache, dass Sylvia Pankhurst eine brennende Fackel in das Haus des Premierministers geworfen hatte, wurde als
absolut verwerfliche und völlig unakzeptable Tat
verurteilt.
    »Diese Aktion wirft unsere Arbeit um Jahre zurück«, sagte Emmeline Pankhurst und seufzte.
    Um ihre Tochter Sylvia sorgte sie sich nicht. In den vergangenen Jahren war Sylvia – wie sie selbst auch – bereits mehrmals inhaftiert worden. In den letzten zehn Monaten hatte Emmeline achtzehn Hungerstreiks überstanden. Zwar war sie danach jedes Mal mehr geschwächt gewesen, doch das Ziel, dass eines Tages Frauen und Männer die gleichen Rechte besitzen, trieb Emmeline Pankhurst immer wieder an.
    »Im ganzen Land werden Razzien durchgeführt«, fuhr Emmeline fort. »Sie haben über zweihundert unserer Mitstreiterinnen verhaftet. Bei den meisten reichte es bereits, wenn sie schriftliches Material über unsere Gruppierung besaßen.«
    »Die Regierung will dem Treiben der Suffragetten ein für alle Mal ein Ende bereiten«, warf Doro ein. »Wenn wir jedoch weiterhin alle zusammenhalten, dann haben sie keine Chance. Die Frauen müssen freigelassen werden. Die Regierung kann es sich nicht leisten, Märtyrerinnen zu schaffen.«
    Ein Lächeln huschte über Emmelines Gesicht, und sie nickte zustimmend.
    »Sie werden in den Hungerstreik treten und auch die Zwangsernährungen über sich ergehen lassen. Beim ersten Mal ist es zwar furchtbar, doch man gewöhnt sich daran. Wenn die Frauen dann körperlich völlig erschöpft sind, wird man sie auf freien Fuß setzen. Bisher ist noch keine in den Gefängnissen gestorben. Die Regierung kann sich nicht den Tod auch nur einer Suffragette leisten.«
    Susan trösteten diese Worte nicht, im Gegenteil. Sie machte sich große Sorgen um Rosalind, da sie wusste, wie labil ihre Freundin war. In den letzten Tagen hatte sie sich ausführlich mit dem bisherigen Wirken der
WSPU
beschäftigt, und nicht alles, was sie entdeckte, hatte ihr gefallen. Zwar ging Susan mit der Forderung des Wahlrechtes für alle mündigen Frauen konform, die Methoden, dieses durchzusetzen, ließen sie jedoch zweifeln, ob die Suffragetten wirklich auf dem richtigen Weg waren. Die Gruppe zerschnitt Telegrafen- und Telefonverbindungen, so dass die Kommunikation zwischen Städten oft tagelang unterbrochen war, sie warfen Fensterscheiben exklusiver Londoner Clubs ein, in denen hochrangige Politiker verkehrten, schreckten nicht davor zurück, in den Gärten deren Privathäuser Brände zu legen, und vor drei Jahren hatten die Suffragetten sich nicht gescheut, das Juwelenzimmer im Tower zu stürmen und es zu verwüsten. Bei diesen Aktionen war bisher niemand zu Schaden gekommen – die Suffragetten waren zwar bereit, ihr eigenes Leben aufs Spiel zu setzen, doch sie wollten niemals das Leben anderer gefährden –, dennoch schreckte Susan diese Gewaltbereitschaft ab.
    Als hätte Emmeline Pankhurst Susans Gedanken gelesen, sagte sie mit lauter Stimme: »Wir denken alle an den schwarzen Freitag von vor zwei Jahren. Dies war wohl das bisher grausamste Vorgehen gegen unsere Gruppierung.«
    »Schwarzer Freitag?« Dunkel erinnerte sich Susan, darüber etwas in der Zeitung gelesen zu haben.
    »Es war der achtzehnte November im Jahr 1910«, erklärte Doro bereitwillig. »Damals versuchten rund vierhundertfünfzig Suffragetten, in das Parlament zu gelangen, um das Frauenstimmrecht zu erlangen. Über eintausend Polizisten und sonstige Banden fielen über die Frauen her. Sie wurden niedergeschlagen und, sogar als sie am Boden lagen, mit schweren Stiefeln getreten und an den Haaren geschleift. Sechs Stunden dauerte

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