Das Lied der Luege
die Straßenschlacht vor dem Parlament, und einhundertfünfzig Frauen wurden verhaftet. Zwei starben sogar an den Folgen der Misshandlungen, wobei die Regierung die Verantwortung strikt ablehnte.«
»Es war furchtbar«, ergänzte Emmeline Pankhurst, »trotzdem haben wir nicht aufgegeben. Das erneute äußerst brutale Vorgehen der Polizei am letzten Sonntag zeigt, dass wir noch einen langen und harten Weg vor uns haben. Daher werden wir nicht nur für unsere tapferen Schwestern im Gefängnis beten, sondern auch erneut auf die Straße gehen und ihre Freilassung fordern.«
Alle Frauen standen auf und klatschten Emmeline begeistert Beifall, nur Susan blieb zurückhaltend. Der Aufstand am vergangenen Sonntag hatte nichts bewirkt. Im Gegenteil – die bedauernswerte Lucy Sheldon war am Tag darauf wie geplant hingerichtet worden, und über fünfzig Mitstreiterinnen saßen im Frauengefängnis Holloway. Wie erste Quellen berichteten, sollten sie alle des versuchten Mordes auf den Premierminister Asquith angeklagt werden.
Eine Liste ging herum, auf die auch Susan ihren Namen setzte. Keir Hardy wollte sie zusammen mit einer Petition bei der nächsten Sitzung des Parlaments vorlegen. Diese würde jedoch erst in einer Woche stattfinden, und Susan bezweifelte, ob Rosalind so lange durchhalten würde. Krampfhaft überlegte sie, was sie tun konnte, um ihre Freundin aus dem Gefängnis zu holen.
26. Kapitel
B eschwingt stieß Lavinia Callington die Droschkentür von innen auf, bevor ein Lakai sie von außen öffnen konnte. Sie war bester Laune – die Sonne schien, es war jedoch nicht zu heiß, und sie hatte den Vormittag damit verbracht, Einkäufe zu erledigen, und alles bekommen, was sie gesucht hatte. Der Innenraum der Kutsche war voll mit Päckchen, die meisten davon waren für ihre Tochter Anabell. Die Kleine hatte ein neues Mäntelchen bekommen, ebenso drei Sommerkleider, denn sie wuchs so unheimlich schnell. Über den runden Strohhut mit den aus Wolle gefertigten Sommerfrüchten würde das Mädchen ebenso entzückt sein wie über den flauschigen Teddybären der Marke Steiff, der ebenso groß war wie Anabell.
»Tragen Sie die Einkäufe hinein«, wies sie den Diener an und eilte, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, ins Haus. Im Vestibül empfing sie angenehme Kühle. Sie streifte ihre weichen, aus Kalbsleder gefertigten Handschuhe ab und griff nach der Karaffe mit Zitronenlimonade, die immer bereitstand, wenn sie heimkam. Sie schenkte sich ein Glas ein und trank durstig. Noch drei Tage – dann konnte sie ihre Tochter endlich wieder in die Arme schließen. Wahrscheinlich war Anabell ein Stück gewachsen, daher hatte Lavinia vorsorglich die Kleider eine Nummer größer gekauft. Seit sechs Wochen war sie nun schon in London. Edward hatte auf ihre Begleitung bestanden, natürlich ohne Anabell. Er war der Meinung, dass die Londoner Luft für das Kind nicht gut war, und Lavinia hatte ihm zugestimmt – was selten genug vorkam. Anabell war in der Obhut eines Kindermädchens und ihrer Großmutter, Lady Zenobia, auf Sumerhays besser aufgehoben. Nun, heute Abend musste sie Edward noch zu einem Empfang im Haus des Grafen von Faygate begleiten, und morgen fand bei Lady Granger eine musikalische Soiree statt, bei der sie und Edward wieder das perfekte Ehepaar spielen mussten, denn Lord Granger saß mit Edward im Oberhaus und hielt offenbar große Stücke auf ihren Mann. Nun, sie würde ihre Pflicht als liebevolle Ehefrau erfüllen, obwohl jeder, der sich die Mühe machte, sie und Edward genauer zu beobachten, bemerken musste, wie es wirklich um ihre Ehe bestellt war. Lavinia seufzte und schenkte sich ein weiteres Glas Limonade ein. Diese Abendveranstaltungen gingen schnell vorüber, wenngleich sie befürchtete, dass es wieder nur ein Gesprächsthema geben würde: der neueste Aufstand der Suffragetten, der sich dieses Mal direkt gegen den Premierminister gerichtet hatte. Seit einer Woche wurde über nichts anderes gesprochen und spekuliert, welche Strafen die Verantwortlichen wohl zu erwarten hätten. Erst gestern war dieses Thema bei einer Dinnerparty heftig diskutiert worden.
»Meines Erachtens sollte man sie alle hängen!« Edward vertrat laut diese Meinung, während die meisten ihrer Bekannten ebenso dachten und zustimmend nickten. »Diese verrückten Weiber machen uns seit Jahren das Leben schwer, jetzt sind sie entschieden zu weit gegangen. Sie wollten Mr. Asquith töten! Dafür kann es nur eine Strafe geben,
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