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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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in den allgemeinen Applaus, der Doros Worten folgte, ein, wenngleich sie bezweifelte, dass sie wirklich so viele sein würden. Mit tausend Frauen wäre sie mehr als zufrieden, und selbst dafür war noch jede Menge zu tun.
    »Wir werden uns bei der Parade vollkommen friedlich verhalten«, forderte Emmeline Pankhurst. »Keine Steine, keine Pöbeleien oder sonstigen Angriffe. Niemand wird etwas bei sich führen, was als Waffe ausgelegt werden könnte. Wir werden schweigend marschieren und unsere Transparente hochhalten. Einen solchen Vorfall wie in der Downing Street können wir uns nicht noch einmal erlauben, wenn wir ernst genommen werden wollen.«
    Dies entsprach Susans Vorstellung von der Demonstration, und sie arbeitete nun fast Tag und Nacht an den Vorbereitungen.
    Müde schloss Susan die Tür auf und war erstaunt, in ihrem Postkasten einen Brief vorzufinden. Seit sie hier wohnte, hatte ihr noch nie jemand geschrieben. Zwar hatte sie Daniel Draycott ihre neue Anschrift mitgeteilt, als sie ihm den restlichen Betrag der geliehenen Summe überwies, hatte inzwischen aber die Hoffnung, von ihm jemals wieder etwas zu hören, aufgegeben. Susan dachte zwar immer noch häufig an Daniel, doch sie war inzwischen zu der Erkenntnis gelangt, ihrer beider Begegnung als harmlosen Flirt abzuhaken und irgendwann schließlich zu vergessen.
    Die runde, geschwungene Schrift auf dem Umschlag war Susan unbekannt, der Briefbogen, den sie dem Umschlag entnahm, war jedoch aus dickem, elfenbeinfarbenem Papier, von dem Susan vermutete, es wäre aus Bütten und recht teuer. Susans Herzschlag beschleunigte sich, als sie in der oberen rechten Ecke das Wappen derer von Tredary erkannte. Hastig überflog sie die engbeschriebenen Zeilen:
    Liebe Susan,
    zuerst war ich Dir ja böse, dass Du Lavinia Callington von mir erzählt hast, obwohl ich Dich gebeten hatte, Stillschweigen über meine Herkunft zu bewahren und meine Familie nicht zu informieren, dass ich wieder in England bin. Heute jedoch muss ich Dir meinen Dank aussprechen. Über die Zeit im Gefängnis möchte ich nichts schreiben. Ich versuche das, was ich dort erlebt habe, zu verdrängen, und meine Schwägerin Lavinia meint ebenfalls, das wäre das Beste, die Sache zu vergessen. Verzeih bitte, dass ich Dir erst heute schreibe, aber ich war sehr krank. Eine Zeitlang wurde um mein Leben gefürchtet, obwohl meine Krankheit mehr seelische als körperliche Ursachen hatte.
    Wie Du siehst, lebe ich jetzt wieder auf Sumerhays, dem Ort, an dem ich geboren und aufgewachsen bin. Meine Mutter wollte mich zuerst nicht sehen, als ich dann aber krank wurde, wich sie kaum eine Stunde von meinem Bett. Ebenso mein Bruder Edward. Er hat sich nicht verändert, und kaum, als es mir wieder besserging, machte er mir lautstark Vorwürfe, dass ich die Familie einst verlassen und mich unter meinem Wert – das waren Edwards Worte! – verkauft hätte. Ich ließ ihn reden, denn ich bin nicht mehr die Jüngste und eines weiteren Kampfes müde. Hier auf Sumerhays habe ich meinen inneren Frieden wiedergefunden, wozu nicht unerheblich die kleine Anabell beiträgt. Anabell – das ist die Tochter von Lavinia und Edward, und jeden Tag wundere ich mich aufs Neue, wie mein Bruder ein so entzückendes Kind zustande gebracht hat.
    Um Lavinia mache ich mir allerdings ein wenig Sorgen. Ich kenne sie ja nicht gut, mir erscheint sie jedoch sehr melancholisch, eigentlich schon traurig. Oft sitzt sie in ihrem Zimmer am Fenster und starrt stundenlang nach draußen. Meine Mutter erzählte, noch vor wenigen Wochen habe sich Lavinia regelmäßig in zahlreichen Komitees engagiert und wäre fast jeden Tag außer Haus zu einer Sitzung gewesen. Ihr Verhalten änderte sich offenbar nach unserer Rückkehr aus London im Sommer. Jetzt verlässt Lavinia das Haus nur noch selten, und auch dann nur, wenn ich sie zu einem Spaziergang überreden kann. Einzig Anabell gelingt es, ihre Mutter ab und zu aus ihrer traurigen Stimmung zu reißen.
    Doch nun genug mit den Problemen anderer Menschen. Wie geht es Dir, liebe Susan? Ich denke, Du arbeitest immer noch für die WSPU , und ich hoffe, dass Du Dich nicht in Gefahr begibst. Glaube mir, eine Inhaftierung ist mit das Schlimmste, was einem widerfahren kann. Wir lesen hier keine Zeitung, Edward ist der Meinung, es ist Zeitverschwendung, wenn Frauen sich mit dem Weltgeschehen beschäftigen. Da ich ihm Dankbarkeit schulde, mich wieder in die Familie aufgenommen zu haben, möchte ich nichts tun, was seinen

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