Das Lied der Luege
konnte, würde sie es eben versuchen.
Das Essen mit Richard Kenton war nicht nur schmackhaft, ihr Gespräch war auch interessant gewesen. Er hatte sie nicht ausgefragt, wie sie es von einem Reporter erwartet hätte, sondern sie hatten entspannt geplaudert, dabei hatte Susan von ihrem Aufstieg zur Schauspielerin und von ihrer Reise nach Amerika erzählt. Die Schilderung der letzten Stunde auf der
Titanic
fiel ihr immer noch schwer, und sie kämpfte mit den Tränen. Mit jedem Wort schien sie die furchtbare Kälte der Nacht wieder zu spüren, und sie hatte in ihrem Bericht mehrmals unterbrechen müssen. Aufmerksam hatte Richard ihr sein Taschentuch über den Tisch gereicht und ihr Zeit gelassen, bis sie wieder in der Lage war, weiterzusprechen. Nun war sie auf den Artikel, der in der Samstagsausgabe erscheinen sollte, sehr gespannt.
Es war fast Mitternacht, als Susan an diesem Abend nach Hause kam. Bereits vor zwei Monaten war sie zu Doro gezogen, da sie beide knapp bei Kasse waren und sich so die Miete teilen konnten. Die Wohnung verfügte nur über zwei kleine Zimmer, hatte jedoch eine Küche und einen Waschraum mit Toilette, so dass die beiden Frauen diese nicht mit den anderen Mietern des Hauses teilen mussten. Da Susan tagsüber im Büro der Frauenrechtlerinnen und Doro abends im Theater arbeitete, sahen sich die Freundinnen nicht oft, und jede hatte ihren eigenen, kleinen Privatbereich. Für Susan war es eine gute Lösung, denn der Lohn, den die
WSPU
ihr bezahlte, war alles andere als üppig. Sie war jedoch davon abgekommen, sich nach einer anderen Stellung umzusehen, da die Arbeit in der Gruppe sie ausfüllte. Es galt, Artikel für Flugblätter zu schreiben, diese zu drucken und zu verteilen, weiter führte sie Spendenlisten und Aufstellungen, wann und wo welche ihrer Mitstreiterinnen zum Einsatz kamen. Die
WSPU
bestand hauptsächlich aus ehrenamtlich helfenden Frauen, die entweder einem Beruf nachgingen oder mit Mann und Kindern beschäftigt waren, und die deswegen nur begrenzt zur Verfügung standen. Hauptamtliche, so wie Susan, gab es nur eine Handvoll. Zur Parlamentseröffnung im November war eine große Parade geplant, für die die Frauenrechtlerinnen noch zahlreiche Mitstreiterinnen suchten. Emmeline Pankhursts Traum war, mindestens zehntausend Frauen aufmarschieren zu lassen.
»Bei einer solchen Menge können wir nicht ignoriert werden!«, hatte sie bei einer Rede euphorisch gesagt, und Susan wollte alles tun, dieses Vorhaben zu verwirklichen. In den nächsten Tagen würde sie die zahlreichen Fabriken im Süden und Osten Londons aufsuchen, in denen viele Frauen arbeiteten, und dort die heute fertiggestellten Flugblätter verteilen. Susan hoffte, viele der Arbeiterinnen motivieren zu können, sich der
WSPU
anzuschließen – oder zumindest an der Parade teilzunehmen –, um gemeinsam für die Gleichstellung von Frau und Mann zu kämpfen. Die weibliche Bevölkerung derart gezielt anzusprechen, war Susans Idee gewesen.
»Tausende marschierende Frauen können mehr erreichen als tausend Unterschriften auf einer Petition!« Dies hatte Susan während der letzten Sitzung gerufen, und ihre Worte waren von donnerndem Beifall begleitet gewesen.
Anfang November wollten sie geschlossen nach Westminster marschieren. Susan hoffte, Mrs. Pankhursts Vorstellungen würden sich erfüllen – eine so große Menge konnte auch nicht vom König, der traditionell die Sitzungsperiode des Parlaments eröffnete, ignoriert werden. Der Monarch hatte sich bisher nicht um die Suffragetten gekümmert, es schien, als würde er gar nicht mitbekommen, welche Bewegung in England entstanden war. George V. hatte zwar nicht die Macht, den Forderungen der Frauen nachzugeben oder das Unterhaus zu beeinflussen, die Meinung des Königs galt in diesem Land aber nach wie vor viel.
»Diese Parade wird ein Meilenstein in unserem Kampf sein«, sagte Emmeline Pankhurst. »Tausende von Menschen werden an den Straßen stehen, um den Zug des Königs vom Buckingham-Palast nach Westminster zu verfolgen. Somit ist ein großes Publikum garantiert, und auch die Presse wird zahlreich vertreten sein. Ihr werdet sehen, danach werden sich zahlreiche Türen und Ohren für uns öffnen.«
»Ja, was wir bisher gemacht haben, war doch nur Kokolores«, rief Doro dazwischen. »Kleinere Aufmärsche, Demonstrationen und Flugblätter … Die Politiker werden uns erst ernst nehmen müssen, wenn sie sehen, wie viele das Frauenwahlrecht fordern.«
Susan stimmte
Weitere Kostenlose Bücher