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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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doch ein paar Dutzend Frauen hatte sie für die Parade gewinnen können.
    »Am Montag marschieren wir auf Westminster zu, und am Dienstag werden wir gefeuert!«, rief eine der Arbeiterinnen und machte eine weit ausholende Handbewegung. »Wir alle hier brauchen diese Arbeit. Ich bin Witwe und habe drei Kinder zu ernähren, und die Ehemänner von anderen tragen ihren Lohn ins Wirtshaus. Ohne das Geld, das wir hier verdienen, müssten die meisten von uns betteln gehen. Wir können das Risiko einer Kündigung nicht eingehen.«
    Aus einer Ecke zog Susan eine Apfelsinenkiste hervor und stellte sich darauf. Mit lauter Stimme rief sie: »Sie haben völlig recht, gute Frau!
Sie
machen den Rücken krumm, damit Ihre Kinder nicht hungern müssen, andere, damit ihre Männer das Geld versaufen können. Doch was ist der Lohn? Nicht einmal die Hälfte dessen, was ein Mann in dieser Fabrik verdient. Was ist, wenn ihr krank werdet? Oder ihr hier einen Unfall habt? Dann steht ihr auf der Straße, denn es gibt Hunderte anderer Frauen, die wegen eurer Arbeitsplätze Schlange stehen.«
    »Ganz richtig!«, rief eine ältere Frau dazwischen. »Und darum werden wir den Teufel tun, unsere Stellung zu riskieren.« Verächtlich spuckte sie auf den Boden und wandte Susan den Rücken zu. »Gleichberechtigung – das ist doch nur ein schönes Wort. Die Gesetze werden von Männern für Männer gemacht und werden immer die Belange der Männer berücksichtigen.«
    »Gerade das wollen wir ändern!« Kämpferisch hob Susan den Arm und ballte ihre Hand zur Faust. »Es werden Gesetze erlassen, nach denen auch wir Frauen uns richten müssen. Gesetze, nach denen wir verurteilt werden können. Wir fordern ein Mitspracherecht bei diesen Gesetzen! Unser Land bezeichnet sich als Weltmacht und will führend sein in allem, was geschieht. Nicht jedoch, was das Wahlrecht angeht, meine Damen! Seit sechs Jahren dürfen die Frauen in Finnland nicht nur wählen, sondern sich auch selbst wählen lassen.«
    »Pah, was geht uns Finnland an!«, unterbrach die erste Sprecherin. »Wir leben und arbeiten hier. Niemals wird man uns erlauben, in der Politik mitzusprechen.«
    Unbeirrt über diesen Einwurf, fuhr Susan fort: »Im Jahr 1906 zogen neunzehn Frauen in Finnland ins Parlament ein. Keinesfalls jedoch nur reiche und privilegierte. Nein, darunter sind Arbeiterinnen, ebenso wie ihr und wie ich. Die Frauen haben für ihre Rechte gekämpft, und sie haben gewonnen.«
    Während Susans letzten Worten erklang die Werksirene und zeigte das Ende der Mittagspause an. Die meisten Frauen wandten sich ab, um an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Nur wenige nahmen eines der Flugblätter, einige steckten es achtlos in ihre Rocktasche.
    Am Abend suchte Susan die nächste Fabrik auf und wartete vor dem Tor auf die Frauen, die erschöpft und müde das Gelände verließen. Auch hier hatte sie keinen großen Erfolg. Die Frauen wollten nach Hause, mussten für ihre Kinder und Ehemänner das Essen kochen, die Wäsche waschen und den Haushalt machen. Dieses Mal verzichtete Susan auf eine Ansprache. Stattdessen drückte sie jeder Frau ein Flugblatt in die Hand und forderte sie mit knappen Worten auf, an der Parade teilzunehmen und die Mitteilung an alle Frauen in ihrer Nachbarschaft zu verteilen.
    Als Susan an diesem Abend im Bett lag, war sie zwar erschöpft, aber voller Hoffnung. Bis zur Parade waren noch zwei Wochen Zeit – wenn sie täglich zwei bis drei Fabriken aufsuchte, würde sie rund fünftausend Frauen erreichen. Wenn davon nur die Hälfte zur Parade kam, wäre das ein großer Erfolg.
     
    Es war ein milder und sonniger Novembertag, an dem der Herbst sich von seiner schönsten Seite zeigte, als dreitausend Frauen sich erneut am Trafalgar Square formierten. Sie wollten, bevor die Parade, die der Kutsche des Königs vorausging, die Mall herunterkam, nach Whitehall und von dort zum Parlamentsgebäude marschieren. Susan und Doro nickten sich zufrieden zu, als sie die große Menge überblickten, die nicht nur rund um die Säule von Admiral Nelson, sondern auch in allen Seitengassen Aufstellung genommen hatte. Die Transparente und Plakate wurden verteilt und die Anweisung gegeben, schweigend und mit hocherhobenem Kopf zu marschieren.
    »Keine Gewalt«, rief Susan. »Wir werfen keine Steine, und wir greifen niemanden an, auch nicht, wenn wir provoziert werden.«
    Langsam setzte sich der Zug in Bewegung. Die Straßen waren von Zigtausenden Menschen gesäumt, die auf die Kutsche des

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