Das Lied der Luege
Wie lange würde die Jacke so aussehen, wie sie jetzt vor Susan lag? Vielleicht würde bald eine Kugel den schweren, dicken Stoff durchbohren und dem Leben des Mannes ein Ende setzen. Oder Granatsplitter würden die Uniform und den Menschen darin in tausend Stücke reißen und die Stofffetzen blutgetränkt auf dem Schlachtfeld verstreuen. Seit den Zeiten von Napoleon Bonaparte, der vor über hundert Jahren aufgebrochen war, ganz Europa unter seine Herrschaft zu zwingen, hatte England nie wieder einer so großen Bedrohung ins Auge schauen müssen, und es hatte in Europa keine so grausigen Kämpfe gegeben.
Trotz der Hitze schauerte Susan. Sie musste sich zusammenreißen und auf die Arbeit konzentrieren, denn sie hatte ihr Tagessoll – fünf fertige Uniformen – noch nicht erfüllt. Ihre Vorgesetzte, eine ältliche, mollige Frau mit harten Gesichtszügen und schmalen Lippen, ließ keine Schlampigkeit gelten.
Die Dämmerung setzte bereits ein, als die Fabriksirene das Ende des heutigen Arbeitstages ankündigte. Da es Samstag war, seufzte Susan erleichtert. Morgen würde sie nur schlafen, am besten ihr Bett nicht verlassen, denn sie war furchtbar müde. In einem Waschraum legte sie ihre schweißnassen Kleider ab, wusch sich notdürftig mit kaltem Wasser und schlüpfte in die trockene Unterwäsche und in ein sauberes Kleid. Dass die Frauen hier ihre Kleider wechseln konnten, war recht fortschrittlich und in den Fabriken keinesfalls üblich. Normalerweise schloss Susan ihre Arbeitskleidung in einen Spind ein, den sie sich mit fünf anderen Frauen teilte, samstags nahm sie ihre Sachen mit nach Hause, um sie zu waschen. Bis Montag mussten sie wieder trocken sein.
»Zum Glück ist Samstag.« Seufzend trat Doro neben sie. »Endlich Wochenende. So wichtig ich unsere Arbeit auch finde, über einen freien Tag bin ich heilfroh.«
Susan lächelte sie an. Rund zwei Dutzend Suffragetten, darunter Doro und Annie Kerr, arbeiteten bei
Charlwood & Sons
, wenngleich sie in dem großen Nähsaal nicht beisammensaßen. Für eine Plauderei während der Arbeit hätten sie ohnehin keine Zeit gehabt.
Mit dem Eintritt Englands in den
Großen Krieg
, wie er allgemein genannt wurde, war die Frauenrechtsbewegung abgeebbt. Eine offizielle Auflösung der
WSPU
hatte es zwar nicht gegeben, aber allen Frauen war klar, dass sie nicht demonstrieren konnten, während ihr Land einer großen Gefahr ausgesetzt war. Emmeline Pankhurst wandte sich der Werbung für die britische Kriegsanstrengung zu und forderte alle Frauen auf, sich im Rahmen ihrer jeweiligen Möglichkeiten an der Aufrüstung zu beteiligen.
»Auch wenn wir in den letzten Jahren gegen vieles in England gekämpft haben – jetzt sind wir alle ein Land!« Mit donnernder Stimme hielt Emmeline Pankhurst eine Rede vor etwa fünftausend Frauen unmittelbar nach dem Kriegsausbruch. »Wir können nicht länger demonstrieren, während unsere Väter, Ehemänner und Söhne auf dem Festland sterben. Es gilt, jetzt eins zu sein! Eins mit England, damit der Sieg bald der unsrige sein wird. Das Frauenwahlrecht ist noch nicht tot, es schläft derzeit nur und wird, sobald wir all das Schreckliche hinter uns gelassen haben, ausgeruht und erfrischt erwachen.«
Durch den Abzug der Männer waren allein in London Zigtausende von Stellen vakant, doch die Rüstungs-, Munitions- und Uniformfabriken brauchten Leute, um die angestiegene Produktion zu bewältigen. Frauen, die bisher zu Hause geblieben waren, suchten sich nun Arbeit – die meisten in Fabriken, viele ließen sich aber auch zu Schwesternhelferinnen ausbilden und arbeiteten in Hospitälern, ganz Mutige zogen sogar an die Front, um den Soldaten in den Feldlazaretten zur Seite zu stehen.
Susan war ehrlich genug zu sich selbst, um zu wissen, dass sie sich als Krankenschwester nicht eignete. Der Geruch nach Blut und Eiter und der Anblick von Wunden waren ihr zuwider. So entschloss sie sich, ebenso wie Doro und Annie, in der Uniformfabrik zu arbeiten. Da die meisten Theater ihre Programme drastisch reduzierten, manche sogar ganz schlossen – man konnte nicht heitere Stücke aufführen, solange Menschen auf den Schlachtfeldern starben –, gab Doro ihre Anstellung im
Royal Court
auf. Bei
Charlwood & Sons
wurden sie zudem gut bezahlt, auch wenn die Arbeit anstrengend war.
»Habt ihr Lust, noch irgendwo einen Drink zu nehmen?« Annie Kerr betrat den Waschraum, in dem Susan gerade ihr Kleid in einen Beutel stopfte. Sie zögerte.
»Ich weiß nicht, ich
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