Das Lied der Luege
obwohl sie sehr freundlich und kompetent war, hatte Edward darauf bestanden, dass die junge Frau Sumerhays bei Kriegsausbruch verließ. Seitdem war kein neues Kindermädchen eingestellt worden, und Rosalind hatte diese Aufgabe übernommen. In ein oder zwei Jahren würde es notwendig sein, für Anabell eine Gouvernante zu engagieren, doch bis jetzt lernte das Kind alles, was in ihrem Alter notwendig war, von ihrer Tante und von Lavinia.
»Mama weint«, sagte das Kind plötzlich und hob den Blick. »Ich wollte zu ihr, damit sie meine Schleife bindet, aber sie schickte mich fort. Sie liegt im Bett und weint. Tut Mama etwas weh, oder ist sie krank?«
»Bestimmt nicht, mein Kind«, versicherte Rosalind schnell und suchte nach einer Erklärung. »Erwachsene haben das manchmal. Dann weinen sie ohne Grund, aber das geht vorbei. Du wirst sehen, morgen an deinem Geburtstag wird deine Mama wieder ganz fröhlich lachen.«
Rosalind wünschte, mit ihren Worten recht zu behalten. Obwohl Lavinia alles für ihre Tochter tun würde, gab es häufig Zeiten, in denen eine tiefe Traurigkeit ihre Schwägerin befiel, sie sich dann in ihr Zimmer einschloss und niemanden, auch nicht Anabell, sehen wollte. Auch sonst bemerkte Rosalind oft einen traurigen Ausdruck in Lavinias Augen, außerdem lachte sie selten. Nun, Rosalind kannte ihren Bruder zur Genüge. Eine Ehe mit Edward war gewiss nicht immer Grund zur Freude, aber Edward war seit Monaten nicht mehr in Sumerhays gewesen. Nicht einmal zu Weihnachten hatte er sich von seinen Geschäften in London loseisen können.
»Jetzt, da wir im Krieg stehen, muss ich in der Stadt bleiben«, hatte er am Telefon gesagt. »Man hat mir einen wichtigen Posten übertragen.« Welcher Art, dazu hatte Edward sich nicht geäußert. Auf jeden Fall war er zu alt, um in den Kampf geschickt zu werden, worüber Rosalind sehr froh war. Wenngleich sie und Edward nichts verband, wollte sie nicht, dass ihm etwas geschah. Er war immer noch ihr Bruder, und die Callingtons waren die einzige Familie, die sie noch hatte.
Rosalind nahm ihre Nichte an der Hand, und gemeinsam gingen sie ins Speisezimmer. Es überraschte Rosalind nicht, von ihrer Mutter zu hören, dass Lavinia nicht zum Essen herunterkommen würde.
»Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit Lavinia los ist«, sagte Zenobia mit heruntergezogenen Mundwinkeln. »Was soll ich denn sagen? Vor Schmerzen schlafe ich seit Wochen keine Nacht mehr durch, jede Bewegung ist eine Qual, trotzdem lasse ich mich nicht derartig gehen. Dabei ist Lavinia jung und gesund.« Rosalind nickte stumm und griff nach der Schüssel mit den glasierten Karotten, um eine Portion auf Anabells Teller zu legen. Zenobia nahm ihr die Schüssel aus der Hand und fuhr zynisch fort: »Wäre Lavinia älter, könnte man denken, es sind schon die Wechseljahre.«
»Was sind Wechseljahre?«, fragte Anabell prompt, die ständig auf der Suche nach neuen Wörtern und deren Bedeutung war. »Muss man da etwas wechseln? Sein Kleid vielleicht?«
Rosalind lachte laut.
»Nein, mein Kind, aber das verstehst du noch nicht, dazu bist du zu jung. Ich erkläre es dir, wenn du älter bist.«
Anabell zog eine Schnute. »Immer heißt es, ich bin für alles zu jung. Ich wünsche, ganz schnell älter zu werden.«
»Ach, Kind, das wirst du von ganz allein.« Zenobia sah mit einem Seufzer auf ihre Enkelin. »Schneller, als dir lieb ist, glaub mir.«
Rosalind nahm die Gelegenheit wahr, ihre Mutter zu fragen, wie es ihr heute ginge.
»Schmerzen deine Knie immer noch so sehr? Ich kann dir wieder Umschläge machen …«
»Ja, das wäre ganz gut.« Zenobia winkte ab. »Solange das Wetter mild und trocken bleibt, geht es einigermaßen, doch ich habe mich damit abgefunden, keine langen Spaziergänge mehr machen zu können.«
Das Gespräch wurde unterbrochen, als Mrs. Windle die Fleischplatte servierte. Sie aßen schweigend, danach brachte Rosalind Anabell ins Bett. Vor Lavinias Tür verharrte sie kurz, unsicher, ob sie das Kind hineinbringen sollte, damit Anabell ihrer Mutter gute Nacht sagen konnte, entschied sich jedoch dagegen. Es war für das Mädchen nicht gut, wenn es ihre Mutter in einem solchen Zustand sah. Rosalind hatte keine Erklärung für die Stimmungsschwankungen ihrer Schwägerin, die – laut Zenobia – erst nach ihrer Rückkehr aus London aufgetreten waren. In den letzten zwei Jahren war Rosalind regelmäßig von ihrer Mutter gefragt worden, was in London vorgefallen war, sie konnte jedoch keine
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