Das Lied der Luege
die Abende waren noch kühl, obwohl in allen Kaminen von Sumerhays Feuer brannte. Sie dachte an die vielen Soldaten, die irgendwo auf der Welt hungernd und frierend in ihren Stellungen lagen, und der Spätnachmittag verlor an Zauber. Wie hatte es nur zu so einem großen Krieg kommen können? Rosalind verabscheute alles, was mit Kampf und Gewalt zu tun hatte, nicht erst seit ihren schrecklichen Erlebnissen in London. Bereits in Irland hatte sie Patrick immer wieder angefleht, sich von den Aufständen fernzuhalten, obwohl sie selbst für ein freies und eigenständiges Irland gewesen war. Patrick hatte sein Engagement mit dem Leben bezahlt, und nicht nur er – er hatte ihre Söhne mit in den Tod genommen.
Rosalind fuhr sich seufzend über die Augen. Es war vorbei und schien so lange zurückzuliegen. Das Schicksal – oder war es Gott? – hatte es gnädig mit ihr gemeint. Nicht nur, dass sie das furchtbare Schiffsunglück überlebt hatte, sie hatte Susan Hexton kennengelernt. Durch sie war sie zwar indirekt ins Gefängnis gekommen und hatte dort Schreckliches erleben müssen, war dadurch aber zu ihrer Familie zurückgekehrt. Zuerst hatte sie es nicht glauben können, als man sie aus dem Gefängnis entließ und in Edwards Haus brachte. Ihr Bruder hatte sie nur kühl gemustert und mit näselnder Stimme gesagt: »Ich gebe dir eine Chance, aber nur eine, verstehst du? Wenn du auch nur ein Mal irgendetwas tust, das unseren Namen in Verruf bringen könnte, dann werfe ich dich eigenhändig auf die Straße. Von mir aus kannst du dann betteln oder als Hure arbeiten, wenn dich überhaupt ein Mann will.«
In den nächsten Tagen hatte Edward ihre Anwesenheit weitgehend ignoriert, während Lavinia sich aufmerksam um sie kümmerte. Noch heute wusste Rosalind nicht, wie sie ihre Schwägerin einschätzen sollte. Sie war ihr sehr dankbar, denn auf Lavinias Veranlassung hin war sie wieder im Schoß der Familie Callington aufgenommen worden, dennoch besaß Lavinia Züge, aus denen Rosalind nicht schlau wurde. Sie neigte zu Arroganz und einer gewissen Art von Herrschsucht, manchmal war sie aber auch sehr still, in sich gekehrt und traurig, beinahe schon melancholisch. Außer Zweifel stand Lavinias tiefe Liebe zu ihrer Tochter Anabell.
Bereits wenige Tage nach Rosalinds Entlassung waren die beiden Frauen nach Sumerhays gefahren, und Rosalind hatte der Begegnung mit ihrer Mutter angstvoll entgegengesehen. Zuerst hatte sich Zenobia ebenso wie Edward zurückhaltend gezeigt, dann hatte sie sich jedoch ihrer Tochter gegenüber geöffnet, als diese, wohl als Folge ihrer Inhaftierung, schwer erkrankte. Rosalind erschrak, als sie ihre Mutter sah. Zenobia war alt geworden, ihr Rücken und die Gelenke waren von Rheumatismus gekrümmt. Es stand außer Frage, dass Rosalind sich von nun an um Zenobia kümmerte, und so taute das Eis, das Zenobias Herz jahrelang umschlossen hatte, nach und nach auf. Zwar würden sie niemals ein herzliches Verhältnis zueinander haben – das hatte es ja auch nicht gegeben, als Rosalind noch ein Kind gewesen war, denn Zenobia hatte einfach kein herzliches Naturell –, sie ließ jedoch die Vergangenheit ruhen und zeigte Rosalind in manchen Situationen, dass sie über ihre Rückkehr dankbar war.
»Tante Rosalind, bindest du mir bitte die Schleife?«
Die Stimme eines Mädchens riss Rosalind aus ihren Gedanken. Sie hatte Anabell nicht kommen hören. Das Mädchen stand mit geöffneten Bändern an ihrem Kleid neben ihr. Gerne folgte Rosalind der Aufforderung und machte eine große Schleife. Zärtlich strich sie Anabell übers Haar.
»So, jetzt siehst du aus wie eine Prinzessin. Du musst heute Abend aber bald zu Bett, denn morgen musst du früh aufstehen, um all deine Geschenke auszupacken.«
Rosalind nickte ernsthaft.
»Es ist schade, dass man nur ein Mal im Jahr Geburtstag hat.« Anabell lächelte und zeigte ein lückenhaftes Gebiss, denn erst vor wenigen Tagen waren zwei Milchzähne ausgefallen.
»Wenn du öfter Geburtstag hättest, würdest du dich bald nicht mehr darauf freuen«, erwiderte Rosalind und lachte. »Außerdem ist Weinachten noch nicht so lange vorbei, und bald kommt Ostern, da bekommst du wieder Geschenke.«
Anabell schmiegte sich an Rosalinds Brust, und diese musste den Kloß, der sich in ihrem Hals bildete, schlucken. Fast war es so wie damals bei ihren eigenen Söhnen.
Bis zum Herbst letzten Jahres hatte Rosalind ein Kindermädchen gehabt. Greta war allerdings deutscher Abstammung, und
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