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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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bin ziemlich müde. Außerdem muss ich heute Abend noch die Wäsche machen.«
    »Ach, komm.« Annie lächelte und zog sie am Arm. »Nur eine Stunde. Wenn ich jetzt gleich nach Hause gehe, fällt mir die Decke auf den Kopf, und ich fange zu grübeln an.«
    Annie Kerr wohnte allein. Sie war unverheiratet, hatte jedoch einen Freund, der irgendwo in Frankreich stationiert war. Den letzten Feldpostbrief hatte sie kurz vor Weihnachten erhalten, seitdem gab es keine Nachrichten mehr. In der Gegend, in der sich ihr Freund befand, wurde heftig gekämpft, so war es kein Wunder, dass Annie voller Sorge war.
    »Einen Drink, ja«, sagte Doro. »Gehen wir in den Pub an der Ecke, da treffen wir wahrscheinlich noch andere.«
    Wäre es vor ein paar Monaten undenkbar gewesen, dass Frauen allein einen Pub aufsuchten, so war es inzwischen an der Tagesordnung. Es gab auch kaum noch Männer, die dort an der Bar saßen und ihr Bier genossen. Wenn, dann waren sie alt, krank oder verkrüppelt und damit nicht tauglich für den Dienst an der Waffe.
    Auf der Straße schlug Susan ihren Kragen hoch, denn ein eisiger Ostwind fegte über die Stadt. Sie vergrub ihre Hände in den Manteltaschen, den Beutel mit der Schmutzwäsche über dem Handgelenk tragend. Nach wenigen Minuten hatten sie das Wirtshaus erreicht, und warme, nach Bier und paniertem Fisch riechende Luft schlug ihnen entgegen. Susan leistete sich ein dunkles Bier, das kühl ihre Kehle hinunterrann.
    »Was meint ihr – wie lange wird dieser Krieg noch dauern?«, fragte sie und blickte in die Runde.
    Doro zuckte mit den Schultern.
    »Ich fürchte, noch sehr lange. Den Berichten, die wir in den Zeitungen zu lesen bekommen, kann man nicht unbedingt trauen. Die Regierung wird keine negativen Meldungen bringen, um die Moral der Engländer nicht zu untergraben.«
    »Doro hat recht«, warf Annie ein. »Ich glaube auch nicht mehr an einen schnellen Sieg, so, wie es uns erklärt wird. Tatsache ist, dass auf dem Festland, besonders in Frankreich, die Linien festgefahren sind und die Männer manchmal tagelang um ein paar Fuß Land kämpfen.«
    Ihre Worte wurden durch das Eintreten eines halbwüchsigen Jungen unterbrochen, der, Zettel in der Hand schwenkend, rief: »Die neuesten Verlustlisten. Große Verluste in der Winterschlacht in der Champagne.«
    Susan nahm ein paar Pennys und kaufte dem Jungen ein Flugblatt ab. Regelmäßig kontrollierten die Frauen die Verlustlisten, sofern sie veröffentlicht wurden. Aufgeregt fuhr ihr Finger an der Tabelle entlang, dann stieß sie einen leisen Schrei aus.
    »Jemand dabei, den du kennst?«, fragte Doro und blickte Susan über die Schulter.
    »Ronald McPhearson-Grant.« Susan seufzte. »Wir waren einmal befreundet, es ist lange her, aber er hat mir sogar einen Heiratsantrag gemacht. Ich erzählte dir davon. Ronald war ein netter Mann, etwas weich, später habe ich auch seine Frau kennengelernt. Sie ist jetzt Witwe, und wahrscheinlich haben die beiden auch schon ein oder zwei Kinder.«
    Susan dachte auch an Ronalds Eltern und seine Schwester, und die Begegnung im Hotel Ritz stand ihr so deutlich vor Augen, als hätte sie erst gestern stattgefunden. Warum war Ronald nicht auf seinem Besitz in Schottland geblieben? Warum musste er, ebenso wie viele andere, den Helden spielen? Weil es die Pflicht eines jeden gesunden und einsatzfähigen Briten ist, unser Land vor dem Feind zu schützen, gab sie sich selbst die Antwort.
    An diesem Tag fand Susan keinen weiteren bekannten Namen mehr auf den Verlustlisten, sie wusste jedoch, dass noch viele, viel zu viele, folgen würden.
    Zur gleichen Zeit auf Sumerhays, Cornwall
    Von den Kriegswirren war in Cornwall nichts zu spüren, hier verlief das Leben wie zuvor in ruhigen und gemächlichen Bahnen. Lediglich in den Häfen von Falmouth und Plymouth in Devon war die Gefahr zu bemerken, denn diese waren stark befestigt worden, und Dutzende von Kriegsschiffen lagen vor Anker. Von Falmouth aus wurden die neuartigen Unterwasserboote, kurz U-Boote genannt, ausgesandt, die vom Deutschen Reich aus immer mehr die Gewässer unsicher machten. Der Winter, der im Osten des Landes kalt und schneereich gewesen war, war in Cornwall mild verlaufen, und jetzt im März blühten bereits die ersten Rhododendren, Tulpen und sonstige Frühlingsblumen.
    Rosalind Callington saß, das Gesicht der Sonne zugewandt, auf einer Bank auf der Terrasse, die von der Bibliothek aus betreten werden konnte. Sie wollte die letzten Sonnenstrahlen genießen, denn

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