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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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einem Seufzer winkte Esperanza ab. »Wir beide wissen, was Neid anrichten kann. Besonders der Neid von Frauen, die nicht über ansehnliche körperliche Attribute verfügen. Dennoch – es war nett, dich wiederzusehen.«
    Susan konnte dies nicht erwidern, daher gab sie Esperanza nur kurz die Hand.
    »Richte Theo meine Grüße aus. Ich wünsche euch beiden und eurem Kind alles Gute.«
     
    An diesem Abend ging Doro zu einem Treffen einiger Frauen, die eine Bombe bauten. Es sollte eine große und starke Bombe werden, so viel wusste Susan. Mehr erfuhr sie jedoch nicht, und sie war froh darüber. Irgendwann würden weitere Menschen im Kampf für das Wahlrecht sterben, und Susan fragte sich nicht zum ersten Mal, ob dies die Sache wert war.

29. Kapitel
    London, März 1915
    D er Lärm der rund hundert Nähmaschinen im Saal war unbeschreiblich. Susan hatte sich auch nach fünf Monaten, die sie in der Fabrik arbeitete, weder an die ständige Geräuschkulisse noch an die Ausdünstungen der Frauen gewöhnt, die hier zehn Stunden täglich über die Maschinen gebeugt saßen. Obwohl der Frühling auf sich warten ließ, war es in dem Raum drückend heiß, ein Fenster zu öffnen, wurde jedoch untersagt. Sie arbeitete von acht Uhr morgens bis sechs Uhr am Abend, sechs Tage in der Woche – lediglich eine halbe Stunde Mittagspause unterbrach den eintönigen Tagesablauf. Ihr Rücken schmerzte von der gekrümmten Haltung an der Nähmaschine, und ihre Finger waren wund, denn die Stoffe waren hart und rauh, und nicht selten rutschte die Nadel ab. Nicht alles an den Uniformen wurde maschinell gefertigt: Die Schulterklappen, die Taschenaufsätze und die Ärmelaufschläge mussten mit Hand angenäht werden. Früher hatte Susan gerne genäht, hatte ihre Kostüme, die sie für die Bühne brauchte, selbst angefertigt und ihre eigenen kreativen Ideen einfließen lassen. Hier bei
Charlwood & Sons
war Kreativität unerwünscht. Früher hatte die bei den östlichen Docks gelegene Fabrik hauptsächlich Damen- und Herrenmäntel und derbe Kleidung für Arbeiter und Bauern hergestellt, seit Herbst letzten Jahres war ihre gesamte Produktion jedoch auf Armeeuniformen umgestellt worden. Hier wurden aber keine feinen Uniformen für Generäle oder Admiräle hergestellt, sondern die Kampfanzüge für die gemeinen Soldaten. Für Männer, die irgendwo da draußen ihr Leben einsetzten, um Großbritannien vor der Übernahme durch eine feindliche Macht zu schützen.
    Bereits im Frühjahr 1914 waren die ersten Anzeichen eines Krieges spürbar gewesen. Susan, die sich durch ihre Arbeit bei der
WSPU
regelmäßig über die politische Lage informierte, hatte mit Sorge den Hexenkessel Balkan und die Aufrüstung des deutschen Kaisers verfolgt. Es braute sich etwas zusammen, das zu keinem guten Ende führen konnte. Als nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers in Sarajewo das Deutsche Reich, das mit Österreich verbündet war, Russland, welches auf der Seite Serbiens stand, den Krieg erklärte und zugleich in das neutrale Belgien einmarschierte, um von dort aus Frankreich zu besetzen, musste England handeln. Als Verbündeter Frankreichs erklärte am 4. August 1914 das Vereinigte Königreich Deutschland den Krieg. Freudig und motiviert zogen Hunderttausende von jungen Männern in den Kampf, entschlossen, das Deutsche Reich binnen kurzer Zeit zu zerschlagen.
    »Weihnachten sind wir wieder zu Hause!«, riefen sie auf den Straßen, während sie stolz und mit hocherhobenen Köpfen zu den Bahnhöfen marschierten. »Spätestens, und wir bringen französischen Champagner und Cognac mit.«
    Weihnachten ging vorbei, ebenso der lange und harte Winter, der auch jetzt im März immer noch Frost und Schnee brachte, doch die Soldaten kehrten nicht zurück, jedenfalls nicht lebend. Die Transporte von Toten wurden immer zahlreicher. Trotz allem konnten sich die Familien der Gefallenen glücklich schätzen, wenn die Körper ihrer Männer in die Heimat überführt werden konnten, denn Zigtausende blieben draußen auf den Schlachtfeldern und in den Schützengräben Frankreichs und lagen dort in anonymen Gräbern.
    Susan sah auf die Jacke, die sie in den Händen hielt und an der sie gerade die linke Brusttasche annähte. Wer würde diese Uniform tragen? Würde es ein älterer Mann oder ein ganz junger sein? Gleichgültig – der Mann würde auf jeden Fall der Sohn einer Mutter sein, wahrscheinlich auch der Bruder einer Schwester oder ein Ehemann, vielleicht sogar ein Vater.

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