Das Lied der Luege
Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Susan keinen festen Plan, sondern konnte in den Tag hineinleben, wie sie wollte. Sie las viel – dazu fuhr sie ein Mal in der Woche nach West Looe in die Bücherei – und erkundete jeden Winkel in den schmalen, gewundenen Gässchen Polperros. Sie genoss diese ruhige Zeit, wusste aber auch, dass es auf Dauer kein Leben für sie wäre. Irgendwann wollte sie sich wieder eine Aufgabe suchen. Ihr Geld würde auch nicht ewig reichen, zumal Jimmy noch wuchs und immer wieder neue Kleidung brauchte. In ein paar Jahren würde er auf eine höhere Schule gehen, danach vielleicht sogar studieren. Der Gedanke an einen Laden, den Susan schon häufiger gehegt hatte, war noch nicht völlig aus ihrem Kopf verschwunden. Sie bezweifelte allerdings, ob die Fischerfamilien mit einem Geschäft, in dem ausschließlich Süßigkeiten verkauft wurden, viel anfangen konnten. Solange der Krieg dauerte, war es ohnehin sinnlos, sich etwas Neues aufzubauen. Einmal in der Woche ging Susan in die Village Hall, in der die Frauen Polperros Mullbinden schnitten und rollten, die an die Feldlazarette und Hospitäler geschickt wurden. Diese Tätigkeit war ehrenamtlich und machte nicht gerade großen Spaß, Susan fand dadurch aber Kontakt zu den Einwohnern. Es war gut, sich so schnell wie möglich in das dörfliche Leben einzugliedern, um keine Außenseiterin zu werden. Jana Godrevy war Susan eine große Hilfe, denn als Metzgersfrau kannte sie natürlich jeden in der ganzen Umgebung. Regelmäßig tranken sie nach der Arbeit noch eine Tasse Tee in Janas Haus. Oft gesellten sich auch andere Frauen dazu. Susans Vermutung, die Leute hier interessierten sich nicht sehr für das, was in London vor sich ging, bestätigte sich, denn sie wurde nie auf ihre Vergangenheit als Schauspielerin oder gar als Suffragette angesprochen. Die Einwohner Polperros wussten nichts über Susans früheres Leben, und so sollte es auch bleiben. Bei den Gesprächen über die Familie Callington und über Sumerhays hielt sich Susan zurück. Sie wollte nicht durch eine unbedachte Äußerung verraten, dass sie mit dieser Familie eng verbunden war. Doch jedes Wort, das über die kleine Anabell gesprochen wurde, sog sie wie ein Schwamm in sich auf. Dabei war das Gerede der Frauen nicht mehr als Klatsch und Vermutungen, denn Kontakt hatte niemand zu denen vom Herrenhaus, und keine der Ladys ließ sich jemals im Dorf blicken.
An einem Nachmittag – Susan hatte wohl an die hundert Binden gewickelt und dann noch eine unterhaltsame Plauderstunde bei Tee und Keksen verbracht – schlenderte sie die Lansallos Street in Richtung Hafen hinunter. Sie war nicht in Eile, denn am Morgen hatte Jimmy gemeint, er würde nach der Schule mit Lewis Fußball spielen und dann bei dessen Eltern zu Abend essen. Auf der Höhe der kleinen Brücke, die sich über das Flüsschen Pol spannte, kam ihr ein Mann in Uniform entgegen. Er hinkte und trug den rechten Arm in einer Schlinge, Susan erkannte ihn jedoch sofort. Für ein Ausweichen war es zu spät, denn Stephen Polkinghorn hatte sie bereits erkannt. Ein erstauntes Lächeln flog über sein Gesicht.
»Susan! Du meine Güte, was machst du denn hier?«
»Ich lebe jetzt in Polperro«, antwortete Susan und fügte hinzu: »Ich und mein Sohn.« Es war besser, wenn Stephen es von ihr erfuhr, bevor es ihm von den Einwohnern zugetragen wurde.
»Dein Sohn Jimmy?« Stephen sah sie ungläubig an. »Wie ist es dir gelungen, deinen Mann davon zu überzeugen, dass der Junge zu seiner Mutter gehört?«
»Paul ist tot«, antwortete Susan knapp. »Gallipoli.«
»Das tut mir leid.« Die Bestürzung in Stephens Blick war echt. »Dann bist du jetzt wirklich Witwe.«
Die kleine Spitze konnte er sich nicht verkneifen, Susan nahm es ihm jedoch nicht übel. Einst hatte sie ihn belogen und erst später, als sie seine Hilfe brauchte, die Wahrheit gesagt.
»Hier in Polperro haben wir uns kennengelernt«, fuhr Stephen fort. »Weißt du noch? Es war ein sonniger, wenngleich kalter Tag, und es war draußen auf den Klippen. Du bist mir sofort aufgefallen, und ich war schrecklich in meiner Ehre gekränkt, weil du meinem Charme nicht erlegen bist.«
Stephen hatte sich nicht verändert, immer noch sprühte der Schalk aus seinen Augen, und Susan wusste nicht, ob sie seine Worte ernst nehmen sollte. Daher nickte sie nur leicht. Sie wollte nicht über die Vergangenheit sprechen und deutete auf Stephens Arm.
»Du warst an der Front? Ich hoffe, es war
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