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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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war. Die Wirtin war an diesem Morgen allerdings recht wortkarg und fragte Susan lediglich, wie sie ihre Eier wollte. Susan war froh, mit niemandem sprechen zu müssen, und beeilte sich mit dem Frühstück, um fertig zu sein, bevor Ernest Hornsby erschien. Sie trank gerade den letzten Schluck Tee, als dieser das Speisezimmer betrat. Susan grüßte nur kurz und ließ den jungen Mann dann stehen. Wenige Minuten später verließ sie das Haus. Es war ein angenehm milder Morgen Anfang Mai, daher verzichtete Susan auf eine Droschke oder die U-Bahn und ging zu Fuß nach Westminster. Einige Tage zuvor hatte sie dort bei einem Spaziergang eine öffentliche Bücherei entdeckt und sich heute Morgen entschlossen, mehr über Sarah Bernhardt zu erfahren.
    Susan verbrachte den ganzen Tag in der Bibliothek. Es gab einige Essays über die Schauspielerin, aber am meisten interessierten Susan die zahlreichen Zeitungsberichte, die fast drei Jahrzehnte zurückreichten. Im Juni 1879 war Sarah Bernhardt zum ersten Mal in London aufgetreten. In Frankreich war die Tochter einer holländischen Jüdin, über deren Vater nur vage Vermutungen angestellt wurden, bereits eine berühmte Künstlerin. Besonders die Gerüchte über ihre exzentrischen Gewohnheiten und ihren lockeren Lebenswandel waren ihr über den Kanal vorausgeeilt, so dass das Publikum ihre Ankunft kaum hatte erwarten können. Obwohl Sarah Bernhardt kein Englisch sprach und ihre Stücke in französischer Sprache aufgeführt wurden, zudem zahlreiche kirchliche Würdenträger gegen die Schauspielerin protestierten und ihre Gemeinden aufriefen, die Theatervorstellungen zu meiden, waren alle ihre Aufführungen schon damals ausverkauft. Von der sogenannten
Guten Gesellschaft
wurde Madame Sarah trotz, oder vielleicht wegen, der Ruchbarkeit ihres Lebenswandels mit offenen Armen empfangen. Sie selbst sah ihrer ersten Vorstellung in England mit großem Lampenfieber entgegen. Madame Sarah hätte sich keine Gedanken zu machen brauchen – das Londoner Publikum feierte sie frenetisch, sogar die sonst eher zurückhaltende Presse veröffentlichte geradezu ekstatische Besprechungen.
    »Die Kombination von Lyrismus und erschreckender Direktheit ist weltweit wohl einzigartig
 …«, las Susan in einer großen britischen Tageszeitung. Ein Kritiker nannte Sarah Bernhardt
orchideenhaft
, während ein anderer wegen ihres
tuberkulösen Aussehens und ihrer tiefliegenden Augen
regelrecht in Verzückung geriet und dies in seinem Artikel zum Ausdruck brachte.
    Über ihr Privatleben erfuhr Susan aus den Zeitungen nur Bruchstücke, die sich zum Teil gegenseitig widersprachen. Manche schrieben, die Schauspielerin habe mehr Liebhaber gehabt als eine Krake Arme, und je älter sie wurde, desto jünger wurden die Männer an ihrer Seite. Andere Journalisten schrieben jedoch, dass sie ihrem Ehemann bis zu dessen Tod zutiefst ergeben und treu gewesen sei, obwohl dieser sie schändlich behandelt und es nur auf ihr Geld abgesehen hatte. Sarah Bernhardt war Mutter eines unehelichen Sohnes, Maurice, der Jahre vor ihrer Ehe geboren wurde. Über Maurice’ Vater gab es, ebenso wie über Sarahs eigenen Vater, wilde Spekulationen, manche sprachen davon, er sei ein hochgestellter französischer Adliger gewesen.
    Nun, Susan interessierte sich nicht für eventuelle Gerüchte über die Schauspielerin, sondern lediglich für ihr Leben und ihr Wirken auf den großen Bühnen der Welt. Madame Sarah hatte auf zwei mehrmonatigen Tourneen durch Amerika großen Erfolg erlebt, und es gab kaum eine Großstadt in Europa, deren Theater ihre Pforten für diese Grande Dame nicht bereitwillig öffneten. Susan versuchte, sich so viel wie möglich von Sarahs Stücken und Rollen einzuprägen, falls am nächsten Abend das Gespräch darauf kommen sollte. Keinesfalls wollte sie sich vor Sarah Bernhardt blamieren.
     
    Die Schauspielerin war als Mann in der Rolle des Herzogs von Reichstadt einfach umwerfend, und erneut vergaß Susan, dass diese kleine, zierliche und dennoch vor Kraft strotzende Frau in diesem Jahr ihren zweiundsechzigsten Geburtstag feiern würde. Die junge Schauspielerin Christine hatte Susan mit drei Wangenküssen überschwenglich begrüßt und sie dann zu einem Platz in der ersten Reihe, von der Bühne links versetzt, geführt. Viel zu schnell war das Stück vorbei, aber Susan freute sich auf ein erneutes Zusammentreffen mit Sarah. Wie bereits beim letzten Mal waren die Räumlichkeiten, in denen Madame Sarah ihre Verehrer empfing,

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