Das Lied der Luege
herauszubringen. Nie zuvor in ihrem Leben war sie derart aufgeregt gewesen. Krampfhaft versuchte sie, sich zu erinnern, was ihr von Sarah Bernhardt in den letzten Tagen beigebracht worden war. Nachdem die junge Schauspielerin Christine von Murphys Angebot, sie, Susan, solle bei ihm vorsprechen, erfahren hatte, hatte diese sofort Madame Sarah davon berichtet. Daraufhin war Susan von der großen Diva eingeladen worden, jeden Nachmittag eine Stunde in ihr Hotel zu kommen, sie wolle Susan gerne unterrichten. Wegen ihrer unterschiedlichen Sprachen konnte Susan zwar nur nachahmen, was Sarah ihr vormachte – bei schwierigen Passagen fungierte Christine als Dolmetscherin –, dennoch schien Madame Sarah mit ihrer Leistung zufrieden zu sein. Susan lernte die richtige Atemtechnik beim Sprechen kennen, wobei dies, um es perfekt zu beherrschen, natürlich eine jahrelange Übung erforderte. Es waren nur ein paar Dinge, die Sarah Bernhardt ihr beibringen konnte, aber das wenige reichte aus, um bei Susan den Ehrgeiz zu wecken, Schauspielerin zu werden. Sie bedauerte nur, dass Madame Sarahs Aufenthalt in London nächste Woche beendet war, aber neue Termine und Auftritte in Frankreich warteten auf die großartige Schauspielerin. Susan konnte sich nicht erklären, warum Madame Sarah ihr half, dass die alte Dame sie jedoch mochte, war unübersehbar. Sie lud Susan sogar nach Frankreich zu sich nach Hause auf ihren Landsitz auf der Belle-Île-en-Mer ein. Von Christine erfuhr Susan mehr über die bretonische Insel.
»Madame Sarah hat sich dort ein wunderschönes Haus gebaut, in das sie sich stets zurückzieht, wenn sie lange Tourneen hinter sich oder einfach von dem Trubel um ihre Person genug hat.« Christine lächelte versonnen. »Sie müssen wirklich einmal kommen, denn schon das Haus und die Einrichtung sind eine Reise wert. Eigentlich ist es eine alte Festung aus dem siebzehnten Jahrhundert, auf einer Landzunge gelegen und nur über eine schmale Zugbrücke zu erreichen. Seit Jahren baut Madame das Gebäude um, aus und an, so dass es heute wie ein Landhaus mit umliegenden Pächterhäusern wirkt. Die Inneneinrichtung ist ebenso individuell wie Madame Sarah selbst – ein Sammelsurium von Stücken aus aller Welt, eigentlich passt nichts so richtig zusammen. Schön ist jedoch der halboffene, windgeschützte Innenhof, in dem Tamarisken wuchern und sogar ein Feigenbaum wächst. Der Hof ist mit zahlreichen Korbmöbeln und Polstersitzen ausgestattet und wird allgemein nur
Sarahtorium
genannt.«
Dank Christines lebhafter und anschaulicher Art, zu erzählen, konnte sich Susan das Haus gut vorstellen.
»Vielleicht sollte ich wirklich einmal nach Frankreich reisen.« Sie lächelte. »Ich war noch nie außerhalb Englands.«
Christine erwiderte ihr Lächeln, dann wurde sie jedoch wieder ernst. Sie senkte die Stimme, obwohl Sarah Bernhardt nicht im Zimmer war und diese die englische Sprache ohnehin nicht verstand.
»Ich muss Ihnen, liebe Susan, jedoch auch sagen, dass Madame Sarah Einladungen auf die Belle-Île leichtfertig, oftmals unüberlegt ausspricht und sie später bereut. So lud sie zum Beispiel auf einer ihrer Gastspielreisen durch England einmal einen jungen Offizier – ein glühender Anhänger ihrer Schauspielkunst – mit seiner ganzen Familie auf die Insel ein. Dieser junge Mann also kratzte sein ganzes Geld zusammen – er musste schließlich die Reisekosten für sich, für seine Frau und für drei Kinder aufbringen – und kam voller Erwartung auf der Belle-Île an. Dort wurde ihm jedoch die Tür vor der Nase zugeschlagen, denn plötzlich erinnerte sich Madame Sarah nicht mehr daran, eine solche Einladung ausgesprochen zu haben. Ja, sie behauptete sogar, den Offizier nie zuvor gesehen zu haben. Ein Freund von Madame lieh ihm das nötige Reisegeld, damit er wieder nach England zurückkehren konnte. Sie sehen also, liebe Susan, so liebenswürdig Madame Sarah ist, exzentrisch kann sie auch sein. Sie schließt schnell Freundschaften, vergisst sie ebenso schnell wieder, wenn neue Bekanntschaften in ihr Leben treten. Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, ich liebe und verehre Madame Sarah, aber manchmal ist sie mit Vorsicht zu genießen.«
Susan wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
»Nun, ich glaube kaum, dass ich jemals nach Frankreich reisen werde«, murmelte sie schließlich und war dankbar, als Sarah Bernhardt eintrat und Christines Geplauder ein Ende machte.
Auf jeden Fall hatte Susan den Eindruck, in diesen
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