Das Lied der Luege
verschwenderisch eingerichtet und dekoriert. Susan fühlte sich an Berichte aus orientalischen Palästen erinnert, denn Sitzkissen waren auf dem Fußboden verteilt, die Wände mit bunten Tüchern verhängt, und exotische Pflanzen waren aus den Gewächshäusern der Stadt herbeigeschafft worden. Susan nippte nur an ihrem Champagnerglas, da allein die Atmosphäre sie berauschte. Ein aufregendes Kribbeln lief durch ihren Körper – zum ersten Mal war sie allein ausgegangen und plauderte mit Männern jeglichen Alters, die daran nichts Ungewöhnliches zu finden schienen. Madame Sarah winkte Susan zu sich heran, und Christine übersetzte ihr kleines Gespräch:
»Es freut mich, dass Sie gekommen sind«, sagte Sarah Bernhardt.
»Ich bedanke mich für die Einladung, Madame. Sie waren einfach umwerfend. Nie zuvor habe ich ein derartiges Schauspiel erlebt.«
Sarah schlug die Augen nieder und tat, als wäre sie verlegen, dabei genoss sie jedes Wort der Anerkennung. Lob war der Nektar und viel mehr wert als alles Geld, von dem sie aber auch jede Menge verdiente. Susan erinnerte sich, in einem Artikel gelesen zu haben, die Schauspielerin sei extrem verschwenderisch, lebe in Saus und Braus und habe ständig Schulden, obwohl sie Gagen erhielt, die nie zuvor in diesem Metier gezahlt worden waren. Zudem vertraue sie keiner Bank und schleppe ihr Barvermögen stets in einer Truhe mit sich herum. Nun, da hatten sie und Susan etwas gemeinsam. Nach wie vor bewahrte Susan ihr Geld in der Tasche unter dem Bett auf, sie hatte sich noch nicht dazu aufraffen können, ein Konto zu eröffnen.
»Sind Sie auch Schauspielerin?«, fragte Madame Sarah und riss Susan aus ihren Gedanken.
»Oh, nein!« Susan hob abwehrend die Hände. »Ich habe noch nie auf einer Bühne gestanden.«
Madame Sarah musterte sie von oben bis unten.
»Das sollten Sie aber, meine Liebe. Mit diesem Gesicht gehören Sie auf die Bühne.«
»Aber ich habe überhaupt kein Talent.«
Dieses Argument ließ Sarah Bernhardt nicht gelten.
»Das kann man lernen. Hauptsache, Sie sind mit Leib und Seele dabei, dann ziehen Sie das Publikum schon in den Bann.«
Susan erinnerte sich an die zahlreichen Dramen von William Shakespeare, die sie auf Sumerhays gelesen hatte, und wie sie einzelne Szenen vor dem Spiegel geprobt hatte. Das hatte ihr Spaß gemacht, aber vor einem Publikum auftreten? Nein, das würde sie nicht können.
Ein Herr hatte das Gespräch mit angehört und trat neben Susan.
»Ich suche ständig junge, talentierte Schauspielerinnen«, sprach er sie an. »Wenn Sie möchten, können Sie bei mir vorsprechen.«
Susan erschrak. »Ich glaube nicht, dass ich das kann«, wiederholte sie.
Der Herr lächelte, zog eine Karte aus seiner Westentasche und reichte sie Susan.
»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle – mein Name ist Theodor Murphy. Mir gehört zwar nur ein kleines, jedoch feines Theater in der Nähe von Covent Garden.«
»Susan Hexton«, stellte Susan sich ihrerseits vor. »Ich bin Witwe …«, fügte sie rasch hinzu.
»Das tut mir leid.« Murphy schien sein Bedauern ehrlich zu meinen. »Haben Sie Familie, für die Sie sorgen müssen, oder sind Sie unabhängig?« Der Mann war kein Freund vieler Worte, er kam gleich zur Sache. »Wenn Sie Schauspielerin werden wollen, dann müssen Sie sich hundertprozentig darauf einlassen, jede Ablenkung, gleich welcher Art, ist fehl am Platz.«
»Ich bin alleinstehend«, versicherte Susan schnell, gleichzeitig fragte sie sich, auf was sie sich hier einließ. Sie hatte doch wohl nicht ernsthaft vor, zu einem Vorsprechen zu gehen?! Nun, vielleicht sollte sie es tun, denn sie würde sich dabei sicher schrecklich blamieren, Murphy würde sie auslachen und aus dem Theater werfen, und somit wäre dieser Gedanke für immer aus Susans Vorstellung getilgt. Warum sollte sie es nicht tun? Ihren ursprünglichen Plan, ein kleines Geschäft zu eröffnen, hatte Susan nicht länger weiterverfolgt. Seit sie Jimmy verloren hatte, fehlte ihr jeglicher Antrieb, sich ein neues Leben aufzubauen.
»Ich werde Sie in den nächsten Tagen aufsuchen.« Susan glaubte kaum, dass sie es war, die diese Worte sprach. Was jedoch hatte sie zu verlieren?
10. Kapitel
Z wei Wochen später stand Susan auf der Bühne des
Blue Horizon
, dem Theater von Theodor Murphy, das in einer Seitenstraße von Covent Garden lag. Ihr Mund war trocken wie eine Wüste zur Mittagshitze, die Zunge klebte ihr am Gaumen, und sie war überzeugt, kein einziges Wort
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