Das Lied der Luege
er überragte Susan um mehr als Haupteslänge –, zu hager, und sein Kopf wirkte im Vergleich zu seinem Körper zu klein, außerdem hatte er ein fliehendes Kinn. Die Lachfältchen um seine hellbraunen Augen zeugten jedoch von Humor, und in seinem dunkelblonden Haar zeigte sich noch kein Grau, obwohl er die dreißig bereits überschritten hatte.
Kurz nach ihrer ersten Verabredung verließ Susan England zu einer Gastspielreise auf den Kontinent, und der Kontakt zwischen ihnen brach ab. Bereits im Jahr 1909 war Susan mit dem Ensemble des
Blue Horizon
nach Frankreich, Belgien und in die Niederlande gereist, wo sie fast überall in ausverkauften Häusern spielten und gute Kritiken bekommen hatten. Damals waren es zwar nur Provinzbühnen gewesen, an denen Theodor Murphys Truppe auftrat, doch für das kommende Jahr lagen Theo auch Angebote größerer Bühnen vor, und im vergangenen Herbst hatte Susan mit dem immerwährenden Stück
Romeo und Julia
, in dem sie die Titelrolle spielte, drei fulminante Vorstellungen in Amsterdam gegeben. Susan war nicht eitel, aber sie litt auch nicht unter falscher Bescheidenheit, denn sie wusste, dass es auch ihr Verdienst war, wenn jedes Stück, das Theo inszenierte, nicht nur in England ein Kassenschlager wurde. Nach dem unerwarteten Erfolg von
Die Elenden
, in denen Susan als
Fantine
mit ihrer glockenhellen und kräftigen Singstimme praktisch über Nacht in ganz London bekannt geworden war, hatte sie Theodor Murphy und dem
Blue Horizon
die Treue gehalten, obwohl ihr regelmäßig Angebote von anderen Theatern auf den Tisch flatterten. Darunter waren auch große Londoner Häuser wie das
Royal Court Theatre
oder das
Gaiety
, in dem sie zum ersten Mal Sarah Bernhardt begegnet war. Natürlich boten ihr diese Theater eine höhere Gage, doch Susan ging es nicht in erster Linie um das Geld. Von den eintausend Pfund, die sie einst von Lavinia Callington erhalten hatte, war längst kaum mehr etwas übrig, denn die Schauspieler mussten für ihre Kostüme und für die Schminke selbst aufkommen. Da dies recht kostspielig war, hatte der Beruf der Schauspielerin einen negativen Beigeschmack, denn viele Frauen – besonders, wenn sie jung und hübsch waren – suchten sich vermögende Gönner, mit denen sie das Bett teilten, um die Kosten für ihre Auftritte finanzieren zu können. Susans männliche Kollegen arbeiteten nebenher als Handlanger für Kaufleute oder Handwerker, wenn sie nicht von Haus aus über die notwendigen finanziellen Mittel verfügten. Marty Galland, der meist die männliche Hauptrolle übernahm und an Susans Seite den Romeo gespielt hatte, versuchte sich im Schreiben. Zu einem richtigen Schauspiel hatte es bisher nicht gereicht, doch Marty hatte schon bei verschiedenen Londoner Zeitungen Essays und Kurzgeschichten veröffentlicht. Susan mochte Marty, denn er war ein freundlicher Kollege, der ihr, selbst wenn sie Liebesszenen spielen mussten, nicht zu nahe trat. Marty war seit vier Jahren glücklich verheiratet, und seine Frau erwartete ihr zweites Kind. Ihr selbst genügte die Gage im
Blue Horizon
für ihren Lebensunterhalt, zudem hatte sie sich zu einer guten Geschäftsfrau entwickelt. Längst hatte sie ihre Abneigung gegen Banken überwunden und einen vertrauenswürdigen Anlageberater gefunden, so dass sich ihr Geld praktisch über Nacht vermehrte, ohne dass sie etwas dafür tun musste. Aus der Wohngemeinschaft mit Doro und ihren Kolleginnen war Susan vor einem Jahr ausgezogen und hatte sich eine eigene kleine Wohnung in Marylebone, südlich des Regent’s Park, gemietet. In dieser eleganten Wohngegend reihte sich ein vornehmes Haus an das andere. Hier wohnten hauptsächlich Angehörige freier Berufe wie Ärzte und Rechtsanwälte, aber auch erfolgreiche Schriftsteller und Schauspieler. Es gab unzählige kleine Pubs, in denen sich die Künstler trafen, und direkt gegenüber von Susans Wohnung war gerade der Neubau der
Royal Academy of Music
vollendet worden. Susan nahm dort in regelmäßigen Abständen Musikunterricht, um ihre Stimme weiter zu schulen, denn sie hatte in den letzten Jahren gelernt, dass sich ein Künstler nie auf seinen Lorbeeren ausruhen durfte.
Das hatte ihr auch Sarah Bernhardt bestätigt, mit der sie immer noch in Freundschaft verbunden war. Seit dem damaligen Unterricht, der Susan den Weg in ein neues Leben geebnet hatte, waren sich die Frauen zwar nur ein Mal wieder begegnet, sie standen jedoch in regelmäßigem brieflichem Kontakt. Susan lächelte in der
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