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Das Lied der Luege

Das Lied der Luege

Titel: Das Lied der Luege Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ricarda Martin
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sondern nur Pfeife rauchte. Sie hatte ihm das liebevoll eingewickelte Päckchen gestern Abend überreicht und war ein wenig enttäuscht gewesen, als er kein Geschenk für sie hatte, sondern lediglich meinte, sie müsse bis heute Nachmittag warten. Ronald McPhearson-Grant war kein Mann großartiger Überraschungen, daher war Susan sehr gespannt, was er für sie vorbereitet hatte.
     
    Ronald war pünktlich und holte Susan mit seinem neuen Automobil ab. Er fuhr ein deutsches Fabrikat, der Typ B der Firma Audi – das Neueste, das auf dem Markt angeboten wurde. Die Karosserie war gelb, und die Insassen wurden durch ein schwarzes Verdeck vor Wind und Regen geschützt. Immer, wenn Susan in das Auto stieg, erinnerte sie sich an Stephen Polkinghorn und ihre erste Ausfahrt in seinem Wagen. In den letzten Jahren hatten Automobile einen regelrechten Siegeszug um die Welt angetreten, waren auch von den Straßen Londons nicht mehr wegzudenken und verdrängten die Pferdekutschen immer mehr. Susan hatte sich längst an diese Art der Fortbewegung gewöhnt, kam man so doch wesentlich schneller zum Ziel als bisher.
    Galant half Ronald Susan in den Wagen, der sogar über eine Heizung verfügte, so dass es im Innenraum angenehm warm war. Die Fahrt dauerte nicht lange, und am heutigen Feiertag waren die Straßen frei, so dass sie nach kurzer Zeit Piccadilly Circus erreichten, auf dem sich die Eros-Statue von Albert Gilbert im Sonnenlicht präsentierte. Susans Überraschung war groß, als Ronald den Wagen vor dem Hotel Ritz stoppte. Das Hotel, vor fünf Jahren eröffnet, war derzeit das eleganteste und auch teuerste Etablissement der Stadt, und Susan vermutete, Ronald würde sie zum Nachmittagstee einladen und ihr in diesem Rahmen ein Geschenk überreichen. Sie freute sich darüber, denn bisher hatte sie noch nie im Ritz gespeist.
    »Was für eine wundervolle Idee, mich hierher auszuführen«, flüsterte sie ehrfurchtsvoll, als sie die große, mit Marmor und Gold gestaltete Halle betraten, die von einem deckenhohen, üppig geschmückten Weihnachtsbaum dominiert wurde. Ronald nahm Susan den Mantel ab, überreichte diesen einer herbeieilenden Garderobiere und sah sie verlegen an.
    »Meine Eltern und meine kleine Schwester sind in der Stadt. Sie logieren im Ritz, und ich möchte euch miteinander bekannt machen.«
    Susan schnappte vor Überraschung nach Luft.
    »Warum?«, war das Einzige, was ihr dazu einfiel. Sie wusste nicht viel von Ronalds Familie, nur, dass diese offenbar recht vermögend sein musste, was die Tatsache, dass die McPhearson-Grants im Ritz residierten, bestätigte.
    Ronald ließ Susan keine Zeit, sich von ihrer Überraschung zu erholen, denn er nahm ihren Arm und führte sie in den ebenfalls mit viel Gold gestalteten Speisesaal, in dem bereits alle mit blütenweißen Tüchern gedeckten Tische besetzt waren. Susan war froh, sich für ein elegantes, weinrotes Kleid, das in schicklicher Weise ihren Brustansatz freigab und mit zahlreichen kleinen, grauen Perlen bestickt war, entschieden zu haben. Dazu trug sie einen passenden ausladenden, ebenfalls mit Perlen verzierten Hut mit einem zarten Schleier, der ihr bis über die Augen reichte. An einem Tisch an der Stirnseite erhob sich bei ihrem Eintreten ein älterer Herr mit grauem Backenbart und lichtem Haupthaar und sah ihnen erwartungsvoll entgegen. Die Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn war unverkennbar.
    Da Susans Hand auf Ronalds Arm lag, bemerkte sie, wie er plötzlich leicht zitterte. Sie selbst fühlte sich auch alles andere als wohl in ihrer Haut.
    »So, mein Sohn, das also ist die Besagte«, sagte Ronalds Vater statt einer Begrüßung, und sein Blick glitt flüchtig zu Susan. »Wurde auch langsam Zeit, dass wir sie kennenlernen.«
    Susan fand sein Verhalten, so zu tun, als wäre sie nicht anwesend, derart unfreundlich, dass sie am liebsten auf dem Absatz kehrtgemacht hätte. Sie wollte Ronald jedoch nicht brüskieren, wenngleich sie sich keinen Reim darauf machen konnte, warum er sie seinen Eltern vorstellte.
    »Vater …« Ronald schüttelte Graham McPhearson-Grant die Hand, beugte sich dann hinunter und küsste seine Mutter und einem jungen, vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alten Mädchen auf die Wangen. »Mama … Frances … darf ich euch Miss Peggy Sue vorstellen? Ich habe euch von ihr erzählt.« Ronald wartete die Reaktion seiner Eltern nicht ab, sondern wandte sich an Susan. »Meine Liebe, das sind meine Eltern und meine kleine Schwester Frances,

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